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Wem gehören meine Daten?


Big Data, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz haben in jüngerer Zeit beängstigende Perspektiven geschaffen. Die technologischen Entwicklungen führen uns an den Rand des totalen Überwachungsstaats. Als besonders abschreckendes Beispiel wird immer wieder China genannt. Aber Vorsicht: die grösste Gefahr für die Demokratie geht vom Westen selbst aus.


Das hat man uns jetzt mit Nachdruck eingebläut: Was China macht, geht gar nicht. Der aktuelle Diskurs um Big Data und Künstliche Intelligenz hat uns einen Eindruck davon verschafft, was in China abläuft. Nicht nur werden die Uiguren zu Hunderttausenden in Konzentrationslager gesteckt, es wird auch die Totalüberwachung sämtlicher chinesischer Bürgerinnen und Bürger realisiert. 600 Millionen Kameras sollen bis Ende 2020 installiert sein; die absolute Kontrolle über jede Bewegung jedes Chinesen wird Ende Jahr erreicht sein. Ein an der Parteimoral orientiertes gesellschaftliches Bonus-Malus-System, komplexeste Datenfusionsprogramme, raffinierteste Algorithmen und fortgeschrittenste künstliche Intelligenz werden den chinesischen Big Brother befähigen, 1.4 Milliarden Menschen auf Schritt und Tritt zu überwachen. Und da die Totalkontrolle die proaktive Selbstunterwerfung unvermeidlich nach sich zieht, ist die Gehirnwäsche des Individuums inbegriffen. Das Gegenteil unseres abendländischen Wertekataloges wird realisiert, der geprägt ist von Menschenrechten, von Demokratie und Freiheit.

All das ist wahr. Aber bei genauer Beobachtung der westlichen IT-Giganten Google, Facebook, Microsoft etc. beschleicht uns der Verdacht, dass die Art und Weise, wie die China-Schelte befeuert wird, vor allem dazu dient, den Westen als leuchtendes Gegenbeispiel zu inszenieren. Das wäre aber nichts als ein riesiges Feigenblatt. Denn bei Lichte betrachtet ist die westliche Welt auf dem besten Weg zu werden wie China, bei allen Unterschieden. Der chinesische Überwachungsstaat ist der Sorge der Partei um die Macht geschuldet. Bei uns resultieren die gleichen Anstrengungen aus den Möglichkeiten, mit Daten Geld zu verdienen. Deshalb werden sie auch bei uns erfasst und gehortet und jedem verkauft, der bereit ist, den aktuellen Marktpreis zu bezahlen. Daten sind der Rohstoff der Zukunft; was sich ankündigt, ist der Datenkapitalismus. Die Gefahr liegt darin, dass das Sammeln und Verwalten von Daten stets ein Synonym für Überwachung ist.

Das oft beklagte Auseinanderdriften von Werteidealen und politischer Realität in der westlichen Welt frappiert uns Mal für Mal. Zu Unrecht. In der Demokratie hat das Untergraben von Demokratie Tradition, denn immer müssen in einem demokratischen System die gesellschaftlichen Eliten befürchten, dass sie von einer viel grösseren Zahl von Menschen mit wenig oder keinem Besitz überstimmt würden. Die Verfassungsväter und Staatsrechtler des 19. Jahrhunderts haben deshalb erfolgreich nach Möglichkeiten gesucht, trotz allgemeinen Wahlrechts die weniger Privilegierten von allzu starker Einflussnahme fernzuhalten: Zensuswahlrecht, indirektes Wahlverfahren, ungleiche Einteilung der Wahlkreise, Majorz- statt Proporzverfahren, Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen (z.B. Menschen mit Vorstrafen)... alles Methoden, das Misstrauen der Besitzenden strukturell abzusichern. Und wenn in bestimmten historischen Momenten Menschen auf die Strasse gingen und Demokratie substantiell einforderten („Commune“ in Paris 1871, 1968er-Bewegung), dann reagierte das System mit physischer Gewalt.

Nie war aber die Frage nach der Ernsthaftigkeit unseres Demokratiebekenntnisses berechtiger als heute. Denn heute geht es nicht mehr nur um verfassungsrechtliche Tricksereien oder um plumpen Wahlbetrug, sondern um Grundsätzliches: heute wird an der Erschaffung eines neuen Menschenbilds gearbeitet, das die Demokratie obsolet machen wird, wenn wir diesem Treiben nicht mit Vehemenz entgegentreten.

Das Menschenbild der Aufklärung, das die Demokratie einst möglich machte, beruhte auf Mündigkeit und Autonomie des Individuums. Davon ist angesichts der totalen Vernetzung des Menschen im Internet der Dinge – vom selbstfahrenden Auto bis zum autonom nachbestellenden Kühlschrank – nichts mehr zu spüren; im Internet der Dinge wird der Mensch selbst nicht anders behandelt als das Auto oder der Kühlschrank. Das Individuum wird vom selbstkompetenten Subjekt zum Objekt, zu einem von Abertausenden untereinander vernetzter Gegenstände. Die Algorithmen, die die gigantischen Rechenzentren steuern, behandeln den Menschen nicht anders als irgendeine andere Spur in den Clouds. Unsere persönlichen Daten verschmelzen mit den Sekundärdaten, die wir mittelbar erzeugen. Dazu gehört auch irgendwelches von uns existierendes Bildmaterial, das hochsensible Gesichtserkennungsprogramme uns namentlich zuordnen. Dabei entstehen Datenpakete, von denen wir weder wissen, dass sie existieren, noch zu welchen Zwecken sie genutzt werden. Google rüstet gegenwärtig in den USA durch Firmenübernahmen im Bereich der Überwachungstechnologien auf. Wer würde vermuten, dass dazu auch Anbieter von autonomen Heizungssystemen im Bereich der Haustechnik gehören? Aber deren Know-how kann Google ermöglichen festzustellen, ob sich in einer Wohnung zu einem bestimmten Zeitpunkt Menschen aufhalten. Das können nützliche Informationen sein… Die Zusammenarbeit der IT-Konzerne mit dem Ministerium für Innere Sicherheit (United States Departement of Homeland Security) erschliesst plötzlich ganz neue Funktionen; die neoliberale Privatisierungswelle weitet sich auf hoheitliche Aufgaben aus. Glaubt jemand im Ernst, Google baue solche Kompetenzfelder auf, ohne die erhobenen Daten in irgendeiner Weise zum Verkauf anzubieten? Und wer schützt dann die Persönlichkeitsrechte des betroffenen Individuums? Und wer schützt es vor Softwarefehlern oder vor veralteten Daten?

Die Enthüllungen des Whistleblowers und ehemaligen CIA-Mitarbeiters Ed Snowden, die sich 2013 zum NSA-Skandal ausweiteten, haben einen Eindruck davon vermittelt, wie in den USA die Geheimdienste mit den Grundrechten der Betroffenen umspringen. Das Vordringen von Google, Facebook, Microsoft in Aufgabenbereiche, die in das staatliche Gewaltmonopol eingreifen, wird so viele Information generieren und so viel Shareholder-Value abwerfen, dass sich niemand Hoffnung auf einen griffigen Datenschutz machen sollte. Die diffuse Rechtslage wird wiederum vielen kleineren Unternehmungen entgegenkommen, die sich ungebremst auf unsere Datenspur setzen können. Kürzlich hat ein Anbieter das Programm «Clearview AI» («AI» steht für «artificial intelligence») auf den Markt gebracht, das auf der Basis von drei Milliarden (!) von den Social Media heruntergeladener Fotos hunderte Millionen Menschen identifizieren kann. Die kombinierte Datenlage steht zum Verkauf – an die Polizei, den FBI und die CIA, aber auch an Private. «Das geheime Unternehmen, das die Privatsphäre […] beenden könnte», titelte die New York Times. Was wird es wohl für Folgen haben, wenn ich mich einmal an einer politischen Demonstration beteilige (also ein demokratisches Grundrecht wahrnehme)? Welche Schlüsselbegriffe wird der Algorithmus mir zuordnen? Was wird es bedeuten, wenn ein Personalbüro – bei dem ich mich um eine Stelle beworben habe – auf das entsprechende Schlagwort stösst?

Allerspätestens jetzt stellen sich ganz zentrale Fragen: Was wollen wir? Die totale Kritiklosigkeit? Wie bei den Chinesen den langen Marsch über die neue Seidenstrasse der Anpassung? Selbstzensur aus vorauseilendem Gehorsam? An der Wahrnehmung unserer Anpassungsbereitschaft können wir ermessen, wie weit wir schon sind. Sollen wir es heute einem jungen Menschen übelnehmen, wenn er sagt: Ich studiere, um später einen Job zu erhalten, deshalb verzichte ich auf Teilname an den Fridays for Future, verzichte, einen Leserbrief zu schreiben, verzichte, mich an dieser oder jener Diskussion zu beteiligen?

Der Westen muss sich hüten, dass seine politische Hypokrisie nicht zu fadenscheinig wird. Die Gefahr geht von den USA und vom Silicon Valley aus. Wenn Europa dieser Gefahr entgehen will, dann muss es (wie bei vielen weiteren Themen) einen eigenen Weg gehen und die alten humanistischen Werte endlich ernst nehmen. Was wir im Bereich der Informationstechnologien brauchen, ist eine ethisch verbindliche Grundsatzerklärung, eine Art hippokratischen Eid der Künstlichen Intelligenz.

Dieser könnte ausgehen von der Grundsatzfrage: Wem gehören eigentlich meine Daten? Ich habe sie erzeugt, sie sie sind Teil meiner Identität. Die Verfügungsgewalt darüber kann nur bei mir selbst liegen. Sie können veräussert werden, aber nur durch mich, und zwar zu einem marktkonformen Preis (Trump zahlte Facebook während des Wahlkampfs 2016 70 Millionen Dollar/Monat für die Daten von 87 Millionen Usern; der diesjährige Wahlkampf wird das Preisniveau neu festlegen). Wovor wir uns hüten sollten, ist Selbstregulierung durch Anpassung, etwa durch die Bemühung, möglichst wenig Daten zu hinterlassen. Diese Haltung wäre die Kapitulation vor der Anmassung der IT-Konzerne, die so tun, als ob unsere Daten ihnen gehörten (ganz abgesehen vom Umstand, dass die Überwachungsalgorithmen sofort auf jene Menschen aufmerksam werden, durch die besonders wenige Daten anfallen). Es gibt nur eine Lösung: Wem gehören meine Daten? – Mir. Sollten in den unvermeidlich bevorstehenden Rechtsstreitigkeiten die Gerichte anders entscheiden, dann ist jede freiheitlich-demokratische Ordnung in höchster Gefahr.

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