Nichts ausser Gutes
- Reinhard Straumann
- vor 2 Stunden
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„De mortuis nihil nisi bene“ lautete eine Rhetorikanweisung bei den alten Römern: Über Verstorbene erzähle nichts ausser Gutes. Konsequent nach diesem Prinzip lesen sich die Nachrufe auf Dick Cheney, den gewesenen amerikanischen Vizepräsidenten unter George W. Bush dem Kleinen. Oder, um es in einen anderen Gedanken zu packen, sie lesen sich wie ein Lehrstück aus der Reihe: Wie würdige ich einen Kriegsverbrecher und Massenmörder so, dass niemand merkt, dass er ein Kriegsverbrecher und Massenmörder war. So, dass niemand auf den Gedanken kommen könnte, es habe sich bei seinen Verbrechen und Morden um illegitime Angriffskriege gehandelt. So, dass verborgen bleibt, wieviele Schurken es in der Geschichte der USA (vornehmlich der letzten 50 Jahre) gab, deren Schurkereien ein Wladimir Putin niemals folgen könnte.
Dick Cheney ziert diese Reihe ganz oben. Er war der Gründervater des «Project of a New American Century», eines Think Tanks, der nach dem Ende des Kalten Kriegs (1989/90) aus der Fragestellung heraus geboren wurde, wie es die USA unter den veränderten Umständen einrichten könnten, dass trotz Einmottung des Feindbildes Sowjetunion das 21. Jahrhundert dennoch ein amerikanisches Jahrhundert würde. Alle führenden Köpfe der späteren Regierung von George W. waren in diesem Think Tank dabei. Cheney war der spiritus rector. Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Richard Perle – alle. Sie brauchten nur noch einen Hampelmann als Präsidenten, den sie vor der globalen Kasperlibühne auftreten lassen konnten – und fanden ihn in einem Cowboy aus Texas, dessen Vater bereits Präsident gewesen war. Und dessen Bruder auf dem Gouverneurssessel von Florida sass, eines Staates, der angesichts der nachfolgenden Farce von Präsidentschaftswahl eminent wichtig wurde. Man hatte nämlich die Wahl verloren, liess sich per Gerichtsbeschluss aber doch noch als Sieger ausrufen. Diese ganze Crew um Dick Cheney war sich einig: Um das 21. Jahrhundert zum amerikanischen Jahrhundert zu machen, brauchen wir das Öl des Mittleren Ostens. Oder, abgekürzt: Wir brauchen einen Krieg gegen den Irak.
Wie kriegt man sowas hin? Das wäre eine der schwierigsten zeitgeschichtlichen Fragen der Jahre um die Jahrtausendwende geworden, wenn nicht… wenn nicht, quasi als Gottesgeschenk für diese Bande der Neocons, am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in zwei Wolkenkratzer des World Trade Centers in New York gerast wären, von denen drei in sich zusammenstürzten. Wer hier mit der Arithmetik Mühe erhält, informiere sich doch über die interessante Geschichte des WTC-7. Honny soit qui mal y pense… so heisst der Leitspruch des noblen englischen Hosenbandordens – Schande über den, der Böses dabei denkt. (Stattdessen ist es so, dass Schimpf und Schande über denjenigen ausgegossen wird, der auch nur den Gedanken äussert, die Ereignisse des 9/11 2001 sollten angesichts der 1000 Ungereimtheiten im offiziellen Bericht eigentlich neu untersucht werden…)
Als damals die Flugzeuge in die WTC-Türme und ins Pentagon krachten, war – was für ein Zufall! – Cheney gerade im Weissen Haus, während der Präsident zum Besuch einer Primarschule in Florida weilte. Cheney riss entschlossen die Führung an sich. Kein Wunder, denn was für ein Geschäftsmodell bot sich an! Cheney war nicht nur Vizepräsident, sondern, als gewesener Verwaltungsratsvorsitzender und CEO aufs engste mit Halliburton verbandelt, einer Unternehmung, die Dienstleistungen aller Art (vom Wiederaufbau eingebombter Städte bis zur Belieferung mit Coca-Cola, und alles zu horrenden Preisen) für die Auslandeinsätze der US-Army anbot. Wenn es Cheney, dem stärksten Mann der Regierung, gelingen würde, den Irak in Schutt und Asche zu legen, dann würden erstens die USA den Mittleren Osten und dessen Ölreserven beherrschen, und dann würde zweitens Halliburton das ganz grosse Geschäft machen, von (siehe oben) bis (siehe oben).
Deswegen forderte Cheney, kaum hatten sich die Staubwolken des 9/11 gelegt, sofort den Krieg gegen den Irak. Dumm nur, dass keinerlei Indizien dorthin wiesen. Also stellte man das Projekt zurück, bombardierte zunächst Afghanistan, versteckte ungezählte Unschuldige in Guantanamo (eine Idee Cheneys), folterte sie mit Waterboarding (eine Idee Cheneys) und quetschte so aus ihnen die Geständnisse heraus, die man fürs erste brauchen konnte und nach denen sich noch jahrelang die Weltpolitik richtete.
Das Irak-Projekt startete mit zweijähriger Verspätung 2003. Im Verbund mit einer «Koalition der Willigen», unter welchen sich insbesondere Grossbritannien mit dem Premier Tony Blair hervortat, tutete man plötzlich in die Welt: Saddam Hussein hat Massenvernichtungswaffen. Nieder mit ihm. Wir bringen die Demokratie und die Menschenrechte in den Irak.
Heute wissen wir: alles Lug und Trug. Der Verteidigungsminister (Verteidigung…?) Colin Powell trat vor die UNO und log, dass sich die Balken bogen. Ein Mandat der UNO erhielt er trotzdem nicht. Die USA (die 20 Jahre danach nicht müde wurden, auf Putin einzuhacken, er führe einen illegitimen Angriffskrieg gegen die Ukraine) eröffneten den illegitimen Angriffskrieg gegen den Irak, warfen annährend eine Million Menschenleben auf und trugen das Chaos in den Mittleren Osten. Die US-Army bombardierte, was ihre Arsenale hergaben. Halliburton lieferte die Infrastruktur für den gesamten Feldzug.
Wurde Cheney dafür zur Rechenschaft gezogen, zusammen mit Bush, Rumsfeld, Wolfowitz, Powell, Blair und Konsorten? Wurden gegen die ganze Bande internationale Haftbefehle ausgestellt (wie gegen Putin)? Die Antworten haben vier Buchstaben.
Was aber lesen wir dieser Tage in den Nachrufen auf Cheney? Nichts ausser Gutes. Die SRG erwähnt in den Kommentaren, einige «Fehler» und «Irrtümer» in der Vita von Cheney habe es schon gegeben. Die NZZ schreibt von entschlossener Führung im Krisenmoment. Und sonst? Cheney sei ein Familienmensch gewesen, ein leidenschaftlicher Jäger und Fischer. Lehrstücke in Sachen korrekter Grabrede... Tröstlich ist einzig, dass auch Kriegsverbrecher und Massenmörder sterben.

