Dass unter den vielzitierten westlichen Werten die christlichen eine zentrale Rolle spielen, ist unbestritten. Jetzt, vor Weihnachten hat die entsprechende Rhetorik Hochkonjunktur. Landauf, landab und durch alle sozialen Medien hindurch werden die Politiker und Politikerinnen sämtlicher Couleurs nicht müde, zu betonen, wie sehr ihnen die christliche Botschaft eine Herzensangelegenheit sei.
Leider lassen sie den Worten keine Taten folgen. Wenn wir ihre Politik betrachten, so ist umso weniger von Nächstenliebe sichtbar, je globaler der Umkreis ist, den wir ins Auge fassen. Dass der Krieg nichts anderes sei als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, definierte einst Carl von Clausewitz, der noch an Gott glaubte. Das war zu Beginn des 19. Jahrhunderts; Clausewitz’ Erfahrungshintergrund waren die napoleonischen Kriege. Damals liessen die Feldherren da eine Division auffahren, planten dort einen Umfassungsangriff und begutachteten alles vom Feldherrnhügel aus per Fernrohr. Für die armen Teufel, die zum Abfeuern ihrer Vorderlader niederknien mussten und für die Reihen hinter ihnen, die das Pulver und die Kugeln in die Gewehrläufe pappten, war das auferzwungenes russisches Roulette: So, wie sie die Reihen der Feinde anvisierten, so schutzlos waren sie deren Salven preisgegeben.
So furchtbar die Abschlachterei in den Kriegen des 18. und 19. Jahrhunderts war, so wäre das doch geradezu idyllisch im Vergleich zu dem, was uns heute erwarten würde, wenn einträte, woran sehr viele mächtige Politiker der Gegenwart arbeiten, Christen allesamt, eifrige Mitternachtsmessenbesucher vor dem Herrn. Ging es früher um ein paar Tausend Hoffnungslose auf den Schlachtfeldern von Schlesien oder Flandern, so wären es in Zukunft Hunderttausende und Millionen Verstrahlter. Clausewitz’ Kriegsdefinition war während des Kalten Kriegs, als die Menschheit unter dem Schreckenseindruck der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki stand, zu einem Aufsatzthema im gymnasialen Deutschunterricht geschrumpft. Glückliche Zeiten! Heute gehört Krieg zum guten Ton der Problemlösungsstrategien. Friedrich Merz, deutscher Kanzlerkandidat der CDU, katholisch, gefällt sich darin, in die Öffentlichkeit zu trompeten, er habe gar keine Angst vor einem Atomkrieg. Boris Pistorius, Verteidigungsminister, lutheranisch, fordert für Deutschland und seine Bevölkerung dringende Kriegstüchtigkeit.
In der Schweiz bewahrt uns der Schutzschild der Neutralität noch ein bisschen vor solchen Stupiditäten, doch der ist löchrig geworden. Denn auch bei uns gilt, dass die Politikerinnen und Politiker – sie mögen sich in den Gottesdiensten zeigen, so oft sie wollen – jegliche Transzendenz verloren haben. Man vergleiche dazu Willy Brandt und seinen Kniefall in Warschau... Oder Matthias Claudius zu Zeiten von Clausewitz: ‘s ist Krieg, ‘s ist Krieg, o Gottes Engel wehre, und rede du darein, ‘s ist leider Krieg, und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.
Den heutigen Politikern und Politikerinnen ist die Fähigkeit abhanden gekommen, in der Welt und in den Menschen etwas anderes zu sehen als den krudesten Materialismus und die schärfste Ökonomisierung. Es ist die Brille der Macht, durch die die Welt wahrgenommen wird. Die Leitfrage der Ethik lautet nicht: Ist es gut oder ist es böse? Sie lautet: Stehe ich auf der richtigen Seite der Macht? Jedermann weiss, dass ein Waffenstillstand in der Ukraine das Gebot der Stunde wäre, aber weil die grossen transatlantischen Mächte ihre Interessen über die Leiden des ukrainischen Volkes stellen, werden weiter Kredite gesprochen und der Einsatz von Superwaffen angedroht. Das Weihnachtslied ist das Hohelied der Eskalation.
Dementsprechend hat die Bigotterie Hochkonjunktur. Alle wissen es, die Politikerinnen und Politiker ebenso wie die Menschen, ihre potentielle Wählerschaft. Trotzdem reichen ein paar bedeutungsschwere Worte und einfühlsame Blicke in die Kameras, und Hunderttausende folgen den Heuchlern. Weil alle im gleichen Boot sitzen, schlagen sie sich auf die gleiche Seite der Macht. Man plappert die Parolen von Freiheit und Demokratie so lange nach, bis man selbst daran glaubt.
Natürlich geht es nicht um Freiheit und Demokratie, sondern schlicht und einfach um die Verwertung von Kapitalinteressen. BlackRock, der weltgrösste Investor, hat im Zuge der Politik von Obama und Biden die halbe Ukraine (mit ihren billionenschweren Bodenschätzen) aufgekauft – und steht jetzt, wo sich diese Politik als gescheitert erweist, im Risiko, massive Abschreibungen in Kauf nehmen zu müssen. Das schluckt man nicht so mir nichts, dir nichts. Aber weil man keinen Plan B hat, wirft man noch einmal Abertausende von ukrainischen Männern vor die russischen Kanonen.
Dasselbe spielt sich im Nahen Osten ab. Dort wütet Israel seit mehr als einem Jahr, hat mittlerweile 45'000 Menschen umgebracht, darunter mehr als die Hälfte Frauen und Kinder. Alles aus Gründen der Selbstverteidigung, heisst es. Wer glaubt einen solchen Schwachsinn? Wer getraut sich, ruhigen Gewissens in die Mitternachtsmesse zu gehen und dort mit verklärtem Blick zum Kreuz aufzuschauen? All die Parlamentarier und Regierungsmenschen in Bern und Berlin, in Paris und London und Washington und sonst wo – geben die sich tatsächlich soviel Betrug und Selbstbetrug hin? Sind sie denn tatsächlich immun gegen das himmelschreiende Unrecht, das in Gaza und im Donbass tagtäglich geschieht?
Wir wissen es nicht. Wenn ja, dann wäre das ein Armutszeugnis für ihre kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten. Wenn nein, dann wäre es die pure Verlogenheit. Offenbar ist das die Weihnachtsbotschaft, die uns nach einem solchen Jahr noch bleibt. Immerhin bietet sich eine Woche danach viel Raum für bessere Vorsätze.
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