top of page

Was wir uns leisten können

Am vergangenen Mittwoch hat der Bundesrat die längst erwarteten weiteren Corona-Massnahmen öffentlich gemacht. Ergebnis: Mit Ausnahme der Gastronomie- und der Unterhaltungsbranche konnte er dafür von Seiten der Wirtschaft ungeteiltes Lob ernten. Leider ist das keine gute Nachricht; es ist ein Alarmzeichen. Es bedeutet, dass sich der Bundesrat in einem Moment, wo die Notwendigkeit ein-schneidender Massnahmen mit Händen zu greifen ist, im Dilemma zwischen Gesundheitspolitik und Wirt-schaft für letztere entscheidet. Können wir uns dieses zögerliche Verhalten jetzt noch leisten?

Gleichentags gab die deutsche Bundesregierung nach einer Sitzung der Kanzlerin mit den Minister-präsidenten und -präsidentinnen der Länder ein Beispiel von Krisenmanagement, ein Lehrstück in Sachen Klarheit und Entschlossenheit. Obwohl die Fallzahlen – auf die Bevölkerungszahl umgerechnet – etwa einen Sechstel derjenigen der Schweiz betragen, obwohl man noch eine Karenz von 30 Tagen hat, bis mit einer vollständigen Auslastung der Intensivpflegemöglichkeiten gerechnet werden muss (in der Schweiz verbleiben gerade noch 10 Tage…), machte Frau Merkel mit ihren Ländervorsitzenden Nägel mit Köpfen. Die Vorgaben lauteten: Bei Schonung von Wirtschaft und Bildung müssen 75 Prozent aller sozialen Kontakte heruntergefahren werden. Das geht nicht schmerzfrei, nicht ohne den Mut zu unpopulären Entscheidungen. Alles, was im weitesten Sinn die Freizeit betrifft, muss leiden. Dafür ist aber der zeitliche Horizont klar: vier Wochen. Deutschland will Weihnachten im Familienkreis feiern, mit Opa und Oma. Alle Epidemiologen sind sich einig, dass die Chancen dafür sehr gut stehen. Die Kanzlerin – durch ihr Studium der physikalischen Chemie mit der Unerbittlichkeit naturwissenschaftlicher Gesetze vertraut – geht den Weg des kleinen Lockdowns, um einen späteren ökonomischen und sozialen Super-GAU zu verhindern.

Welche Form des Weihnachtsfestes uns in der Schweiz erwartet, unterliegt dem Prinzip Hoffnung. Ungewiss, ob Opa und Oma dann noch leben. Solange in den Kantonen die Gewerbeverbände mass-geblich die Agenda der Gesundheitspolitik bestimmen und solange der Gesundheitsminister mit den kantonalen Gesundheitsdirektoren alle möglichen Kompromisse eingeht, ist die Hoffnung gering. Wir können uns die radikalen Massnahmen – sprich: einen temporären Lockdown – nicht leisten, sagt unser Finanzminister, der sich gerne über die Maskenpflicht lustig macht und nicht weiss, wie man die Covid-App herunterlädt. Wie kommt er drauf? Die Nationalbank hat gestern ihre Quartalszahlen veröffentlicht: Von Januar bis September des laufenden Jahres hat sie 15,1 Milliarden Franken Gewinn erzielt; sie verfügt aktuell über eine Ausschüttungsreserve von 100 Milliarden. Gemäss den Zahlen der Crédit Suisse belegt die Schweiz auf der Liste der Volksvermögen mit einem Mittelwert von 565‘000 Dollar pro erwachsener Person den globalen Spitzenwert, deutlich vor Hongkong mit 489‘000 Dollar. Deutschland folgt auf Rang 21 mit 217‘000 Dollar.

Nun ist grundsätzlich gegen eine vorsichtige Finanzpolitik nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Es ist löblich, Verantwortung für nachrückende Generationen zu übernehmen und ihnen keine Schuldenberge anzu-lasten, die alle gestalterischen Spielräume zerstören. Dennoch: Ausgerechnet die reichste Nation der Welt soll sich keinen zweiten, prophylaktisch verordneten, terminlich begrenzten Lockdown leisten können – einen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Kollaps des Gesundheitssystems und eine gesell-schaftliche Katastrophe vermeiden hülfe?

Die Vermutung liegt nahe, dass sich die schweizerische Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht an dem orientiert, was wir uns tatsächlich leisten können, sondern daran, was das offensichtlich einzig denkbare Finanzierungsmodell hergibt: die Besteuerung von Arbeit. In der Tat wollen wir nicht, dass sich unsere Kinder zu Tode schuften, damit die Alten die Corona-Krise um ein paar kurze Jahre überleben. Aber vielleicht wäre es an der Zeit, der Uninspiriertheit unseres Finanzministers auf die Sprünge zu helfen. Sobald es um alternative Besteuerungsmodelle geht, ist ihm noch nie etwas anderes eingefallen, als sich schützend vor den Status quo zu stellen. Digitalsteuer? Bloss nicht! Finanztransaktionssteuer? Behüte! Sofort würden die grossen Konzerne abwandern, und wo würden dann die Steuereinnahmen bleiben! Und die Arbeitsplätze! Erbschaftssteuer auf Supervermögen, die sich ohne Zutun der Realwirtschaft selbst vermehren? Um Gottes Willen! Die Plutokraten wären doch sofort weg, auf den Channel Islands, den Kayman Islands, den Bahamas, dort, wo eh ihre Jachten dümpeln.

Wie wenn wir den Grosskonzernen und den Superreichen nichts anderes zu bieten hätten als Steuer-begünstigungen. Aber statt darüber nachzudenken, beugen wir uns lieber ihren Abwanderungsdrohungen und besteuern weiterhin knochenhart unsere Arbeitseinkommen. Und die unserer Kinder. Und notfalls lassen wir Covid wüten. Das können wir uns offenbar leisten.

22 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Links ist da, wo der Daumen rechts ist

Europa hat genug. Die Parlamentswahlen, die über das kommende Wochenende stattfinden (heute in Grossbritannien, am Samstag und Sonntag in Frankreich) werden, endlich, einen Umbruch bringen, und zwar i

Und sie bewegt sich doch

Julian Assange ist frei. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, hatte ihn schon abgeschrieben, hatte ihm den Tod auf Raten in einem Sicherheitstrakt des US-amerikanischen Strafvollzugs vorausgesagt. Ums

Sieg im Wohnzimmer

1964 waren wir live dabei. Eben hatte der amerikanische Präsident Johnson seiner Nation die Lüge aufgetischt, das US-Kriegsschiff Maddox sei von der nordvietnamesischen Marine torpediert worden. Der B

bottom of page