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AutorenbildReinhard Straumann

Links ist da, wo der Daumen rechts ist

Europa hat genug. Die Parlamentswahlen, die über das kommende Wochenende stattfinden (heute in Grossbritannien, am Samstag und Sonntag in Frankreich) werden, endlich, einen Umbruch bringen, und zwar in beiden Ländern aus gleichen Gründen: die Menschen haben genug. Genug von der Erosion des Service publique, genug vom desaströsen Zustand des Gesundheits- und Bildungswesens, genug von einer verlotternden Infrastruktur, genug vom Wohlstandsverlust und von der Inflation, die das Ersparte auffrisst. Vor allem aber haben sie genug von diesen Kriegen an der Peripherie Europas, die am Anfang allen Übels stehen. Deren endlose Fortsetzung dient ausschliesslich amerikanischen Interessen, nämlich dem «militärisch-industriellen Komplex» (Eisenhower), der in den USA systemrelevant ist und der immer neue Kriege braucht, damit in der geopolitischen Grosswetterlage die USA halbwegs obenauf bleiben können.

Die Regierungen der europäischen Nationen lassen sich – mut-, kraft- und ideenlos, wie man die transatlantische Brücke endlich zurückbauen könnte – von Washington benutzen und erklären die amerikanischen Interessen zu ihren eigenen. Damit die Bevölkerungen ihnen glauben, haben sie eine unglaubliche Propagandaschlacht vom Zaun gebrochen und die Medien in die Pflicht genommen. Derzeit sind sie daran, mit Hilfe einer ganzen Reihe von Gesetzesnovellen so etwas wie die Gesinnungsloyalität der Bürger zu erzwingen.

Vorreiterin hierin ist die Bundesrepublik Deutschland, deren Ampelregierung nicht nur fraglos hinnimmt, dass die CIA ihre Versorgung mit günstiger russischer Energie torpedierte (und damit Deutschland nach und nach deindustrialisiert), sondern die dem Tattergreis Joe Biden dafür gleichsam die Füsse küsst. In Deutschland stehen die Bundestagswahlen nicht unmittelbar vor der Tür wie in Frankreich und England, aber auch nächstes Jahr wird die Quittung nicht auf sich warten lassen. Tragisch ist nur, dass in Deutschland mit der CDU/CSU eine bürgerliche Opposition in den Startblöcken steht, die den Ukraine-Krieg eher eskalieren als bremsen wird. Friedrich Merz, der künftige Kanzlerkandidat, ist der europäische Fahnenträger von BlackRock, jener weltgrössten Investitionsfirma, die im Begriff ist, die Ukraine mit ihren gigantischen Bodenschätzen aufzukaufen, und zwar zu Dumpingpreisen. Denn dass es beim Krieg in der Ukraine um nichts anderes geht, pfeifen in Washington die Spatzen von den Dächern. Nur die Deutschen, die Franzosen und die Engländer sind dumm genug, das Märchen von der Bedrohung der Demokratie (in einem der korruptesten Länder der Welt…) zu glauben. Oder waren dumm genug… denn, wie oben gesagt: der Umbruch steht bevor, und zwar in zwei ersten Tranchen bereits am Wochenende.

Das Interessante dabei ist, dass der Rutsch in Grossbritannien nach links, jener in Frankreich aber nach rechts gehen wird, obwohl Ausgangslage und Ursachen in beiden Ländern identisch sind. Dementsprechend sind in Grossbritannien die Rechten und in Frankreich zwar nicht die Linken, aber immerhin die Nicht-ganz-Rechten um den Président de la République daran, den Untergang des Abendlandes anzukündigen für den Fall, dass die «Falschen» gewinnen sollten (was unvermeidbar der Fall sein wird). Boris Johnson, der Friedensverhinderer von Kiew, geiferte am Mittwoch gegen Labour, dass man nur den Kopf schütteln konnte, und in Frankreich solidarisieren sich die Kommunisten plötzlich mit den Bürgerlichen, um die Rechten zu verhindern. Wenn nämlich die jeweils anderen gewinnen, eben in England die Linken und in Frankreich die Rechten, dann sei in beiden Fällen die Demokratie im Eimer. Hat hier noch jemand die Übersicht? Natürlich, ganz einfach… links ist da, wo der Daumen rechts ist.

Was lernen wir daraus? Zweierlei. Erstens: die Begriffe links und rechts als politische Standortangaben haben in der aktuellen Verwendung ausgedient. Sie dienen nur noch, hüben wie drüben, als Diffamierungsattribut und Verleumdungszuschreibung. Wer politisch noch ernst genommen werden will, sollte auf solche Etiketten verzichten und immer konsequent die politischen Inhalte benennen, um die es geht. Denn was früher einmal links war – konsequentes Einstehen für den Frieden und deshalb kritische Distanz zu jeglichem imperialistischen Gehabe –, ist heute Steckenpferd der ehemals Rechten, und was einst rechts war – die Anerkennung, dass ungebremste Migration zu Problemen führt – ist zum Thema von früheren Linken geworden. In Deutschland zeigen die oppositionellen Kräfte von AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht die Überkreuzentwicklung der politischen Debatten.

Zweitens: Wenn die Begriffe links und rechts keine inhaltliche Funktion mehr haben, dann taugen sie auch für das nicht mehr, wozu sie heute noch dienen, nämlich als Instrumente der politischen Herabwürdigung. Die Zukunft, die Grossbritannien mit einer Labour-Regierung und Frankreich mit einer nationalistischen, EU- und kriegskritisch gesinnten Regierung bevorsteht, wird zeigen, ob das Abendland tatsächlich dem Untergang geweiht ist. Wenn aber, wie ich vermute, die «Rechten» und die «Linken» nur deshalb von einer (gross-)bürgerlichen «Mitte» heruntergemacht werden, damit der in den USA gesteuerte Neoliberalismus sich möglichst frei entfalten kann, dann müssen wir uns nicht um die Demokratie sorgen, sondern dann ist das eher Anlass zur Hoffnung.

Mit dem vorliegenden Text, liebe Leserin, lieber Leser, verabschiede ich mich in die Sommerpause. In der ersten Septemberwoche werde ich mich wieder zu Wort melden. Gehen wir getrost davon aus, dass bis dahin weder Frankreich zu einer Rechts- noch England zu einer Linksdiktatur geworden sein wird. So oder so aber wünsche ich schöne Sommerferien!

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