1964 waren wir live dabei. Eben hatte der amerikanische Präsident Johnson seiner Nation die Lüge aufgetischt, das US-Kriegsschiff Maddox sei von der nordvietnamesischen Marine torpediert worden. Der Bombenterror, der jetzt losbrach, war durch dieses konstruierte Narrativ legitimiert. Jetzt ging es los. Es regnete Napalm aus den B-52-Bombern über Reisfelder, Krankenhäuser und Kindergärten. Entlaubungsgifte wurden über dem Dschungel versprüht, mit Spätfolgen bis heute. Johnsons Lüge war nach demselben Muster gebaut, mit welchem der Gröfaz („der grösste Feldherr aller Zeiten…“) am 1. September 1939 in die Welt posaunt hatte, von jetzt an werde „Bombe mit Bombe vergolten“. Vergeltung? Danke für gar nichts… Aber im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg war der Vietnamkrieg der erste Krieg im modernen Fernsehzeitalter. In Echtzeit konnte das interessierte Publikum die Massaker verfolgen, welche die GIs am Mekong veranstalteten – aber auch, wie amerikanische Soldaten in Vietnam zu Tausenden ums Leben kamen.
Die Folgen liessen nicht auf sich warten. Die amerikanische und die europäische Öffentlichkeit waren entsetzt. Protest ertönte vieltausendfach. Die Menschen gingen auf die Strasse, die Jugend demonstrierte an den Universitäten. 1968 war der Widerstand so heftig geworden, dass das Selbstverständnis des sogenannten „Establishments“ sturmreif war. Umfangreiche Veränderungen waren die Folge, zwar nicht politischer, aber gesellschaftlicher Art. Die Frauen forderten ihre Rechte ein, in den USA die Schwarzen ebenso, neue Formen des Zusammenlebens („Kommunen“) schoben sich alternativ neben jene der bürgerlichen Kleinfamilie im Reihen-Einfamilienhaus. Ein ganzer Rattenschwanz von dringend anstehenden Reformen war die Folge der Fernsehbilder aus Vietnam. Auch wenn die politische Ausbeute substantiell gering war, so hat 1968 doch die Gesellschaft in vielen ihrer Erscheinungsformen umgepflügt.
Der Schock sass all jenen, die der politischen Entscheidungsgewalt fast verlustig gegangen waren, tief in den Knochen. Für sie war das eine Katastrophe, die sich keinesfalls wiederholen durfte. Ab sofort passte man höllisch auf, in welcher Weise die Massenmedien über Kriege berichteten. „Embedded journalism“ hiess das neue Zauberwort, gemäss welchem die zivile Kriegsberichterstattung jetzt minutiös kontrolliert wurde. Im Irakkrieg von 2003, der auf der Basis einer noch faustdickeren Lüge vom Zaun gebrochen wurde als die Mär von der Maddox, durften nur noch ausgewählte Journalisten unter strengsten Zensurauflagen auf den amerikanischen Panzern mitfahren. Die Bilder und Kommentare, die sie uns lieferten, fielen dementsprechend aus. Man ratterte durch die Wüste wie bei Paris-Dakar, und das war es dann mit der Information.
So ist es auch heute, sowohl in der Berichterstattung über den Ukraine- wie über den Gaza-Krieg. Tote Kinder soll man sehen, soweit es sich um Opfer der Russen oder der Hamas handelt, aber keinesfalls dürfen sie gezeigt werden, wenn die Bomben israelischer oder ukrainischer Herkunft waren (letztere sind ja ausschliesslich vom Westen geliefert… um Gottes Willen! Behüte uns vor dem Hühnervogel! Nicht dass noch Missverständnisse aufkommen!). Das Sterben von NATO-Soldaten, das mittlerweile auch schon begonnen hat, ist in der westlichen Berichterstattung tabu; die Zinksärge werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit nach Paris oder London zurückgeflogen.
Der Kampf um den Sieg in den Wohnzimmern, also vor den Fernsehschirmen, ist längst entbrannt. Die Deutungshoheit des Westens darf nicht beeinträchtigt werden durch Bilder, die die Menschen irritieren könnten. Das Zusammenwirken von staatlicher Einflussnahme und Selbstzensur der Massenmedien auf die Darstellung des Krieges und seine drohende Eskalation vertieft und beschleunigt die Zweiteilung der Welt. Diese ist konstruiert wie ein Wildwestfilm, sie besteht nur noch aus den Guten und den Bösen. Die Guten, das sind selbstredend wir – der Westen, die NATO, die EU etc. –, die Bösen, das sind die anderen. Natürlich gibt es dasselbe vor den russischen Bildschirmen, einfach mit umgedrehter Tendenz (um 360 Grad, würde die deutsche Aussenministerin sagen).
Diese Simplifizierung des Weltbilds führt zu katastrophalen Fehlleistungen. Sie führt dazu, dass die furchtbarsten Untaten der schlimmsten Schurken vom Schild des „Wertewestens“ gedeckt sind, die Folterpraktiken südamerikanischer Potentaten in den 70er-Jahren, die Kleptokratie afrikanischer Gewaltherrscher in den 80ern, die Lügen von Bush und Blair im Irakkrieg und so fort. Letzte Woche hat die New York Times – und zwar auf der Basis israelischer Quellen – hieb- und stichfest nachgewiesen, dass der kriminelle israelische Premier Netanjahu bereits Tage vor dem 7. Oktober letzten Jahres von den Mordplänen der Hamas Bescheid gewusst hatte. Er liess sie gewähren… weil er sich einen grösseren innenpolitischen Nutzen ausrechnete, als wenn er die Menschen geschützt hätte. Macht gar nix, Netanjahu gehört trotzdem zu den Guten, denn er steht ja auf der Seite des Westens. Bloss sollte man solche Informationen nicht durchsickern lassen (interessanterweise – siehe New York Times – ist hierin die amerikanische Presse freier als die europäische).
Die von Regierungen und Massenmedien aktiv geförderte Teilung der öffentlichen Wahrnehmung in die Guten und die Bösen legt sich wie ein Riss über die Welt. Es ist die Teilung entlang der Grenze, ob wir für die Aufrechterhaltung der amerikanischen Suprematie auf der Welt sind (und sei es auf Kosten einer nuklearen Katastrophe), oder ob wir zulassen wollen, dass aufstrebende Mächte (wie China) konkurrieren dürfen. In der Schweiz hat die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates – nach einem Stichentscheid ihrer Präsidentin von der SP (die einmal eine Friedenspartei war…) – die Bereitschaft bekundet, unsere Neutralität dafür bachab zu schicken. Der Entscheid zeigt, dass die Schlacht im Wohnzimmer geschlagen ist. Der Sieg gehört der Schutzpatronin derjenigen, denen auch die geringste Befähigung zur Differenzierung abhanden gekommen ist, der Sancta Simplicitas. Überlassen wir ihr das Sagen, dann wird die Katastrophe nicht aufzuhalten sein.
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