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AutorenbildReinhard Straumann

Und sie bewegt sich doch

Julian Assange ist frei. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, hatte ihn schon abgeschrieben, hatte ihm den Tod auf Raten in einem Sicherheitstrakt des US-amerikanischen Strafvollzugs vorausgesagt. Umso grösser ist die Freude jetzt. Und umso dezidierter können wir zwei Einsichten formulieren: Erstens, dass auch die amerikanische Regierung durch die öffentliche Meinung beeindruckt werden kann. Und zweitens: was Diplomatie vermag, wenn sie mit einem klaren Ziel vor Augen und – vor allem – mit Diskretion vorgeht. Ohne grosses Trallalla wie beim sogenannten Friedensgipfel in der Schweiz, bei dem der Veranstalter (der Bundesrat) nie wirklich wusste, was er wollte, ausser sich selbst auf einem Gruppenfoto mit 80 Staatschefs zu sehen. Demgegenüber wirkten die australischen Behörden still hinter den Kulissen, um ihren Landsmann Assange nach Hause zu holen, im Bewusstsein der eigenen Stärke. Diese liegt im Positionsbezug hinsichtlich des Konfliktes zwischen den USA und Australiens grossem Nachbarn China. Inwiefern man hierin dem tattrigen Joe Biden entgegen kam, wissen wir nicht, aber die Tendenz ist klar.

Aber bei aller Freude müssen wir uns bewusst sein, dass Assanges Befreiung kein Sieg ist, schon gar keiner für die Pressefreiheit. Assange verdankt sein Leben einem Deal: sofortige Freilassung gegen ein Schuldbekenntnis. Damit hat die amerikanische Rechtsprechung exakt das Präjudiz, das sie wollte. Assange musste von seiner Position abrücken, die er während 13 Jahren Eingesperrtseins beharrlich vertreten hatte (acht Jahre in der Ecuadorianischen Botschaft in London, fünf Jahre in einem Knast für Schwerstkriminelle). Vor einem Gericht auf einem amerikanischen Aussenposten auf den Marianen gestand er eine Schuld ein, obwohl er vom Gegenteil überzeugt ist. Genau wie jeder andere, der zwischen einem Kriegsverbrechen und der Handlung, dieses Verbrechen öffentlich zu entlarven, unterscheiden kann.

Assanges Geständnis contre coeur ist ein hoher Preis. Das Delikt lautet: unrechtmässige Beschaffung und Verbreitung militärischer Geheimnisse. Gewiss, Geheimdienste bedürfen des Informationsschutzes – sonst wären sie ja keine Geheimdienste. Ob aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit und flagrante Verstösse gegen das Völkerrecht zu den schutzwürdigen Interessen zählen, ist eine andere Frage. Als Beispiel dient ein Video, das Assange auf Wikileaks veröffentlicht hat: Es zeigt, wie acht Zivilisten (darunter zwei Journalisten) aus einem Helikopter des US-Militärs von einer enthemmten Soldateska unter Gelächter über den Haufen geschossen werden. Wo ist hier das schutzwürdige Interesse? Wer die sogenannten «westlichen Werte» ernst nimmt, derer sich die NATO-Staatengemeinschaft stets rühmt, weiss die Antwort.

Der Deal Assanges mit der amerikanischen Justiz stellt also fest, dass Assange der Verbrecher ist, nicht die Killer im Helikopter. Und zweitens, dass ein australischer Staatsbürger von einem US-Gericht nach amerikanischem Recht verurteilt werden darf, auch wenn die Tat, welcher er beschuldigt wird, irgendwo im Ausland begangen wurde. Wie kann unter solchen Vorzeichen Wikileaks überleben, Assanges Enthüllungsplattform? Wird sich je wieder ein Whistleblower einem solchen Risiko aussetzen? So sehr wir uns über die Freilassung Assanges freuen und so sehr wir verstehen, dass er dem Deal zugestimmt hat, so sehr müssen wir konstatieren, dass er, der Kämpfer für die Pressefreiheit, ihr letztlich einen Sargnagel einschlug. Der Druck, dem man ihn mit fiesen Tricks aussetzte (die CIA hat ihm eine Vergewaltigungsbeschuldigung angedichtet, damit er überhaupt verhaftet werden konnte), ist zu gross geworden.

Galileo Galilei, der grosse Astronom und Physiker, wurde im Jahr 1633 vor die Inquisition gezerrt, weil er mit Hilfe seiner Teleskope nachgewiesen hatte, dass nicht die Sonne sich um die Erde dreht, sondern umgekehrt die Erde um die Sonne. Der Vatikan verbot die Wahrheit, weil das geozentrische Weltbild eine Macht- und Glaubensbasis der Kirche darstellte. Man drohte ihm mit Daumenschrauben, man führte ihm das Beispiel Giordano Brunos vor Augen, auch eines Astronomen, der ähnliche Thesen aufgestellt hatte und auf dem Scheiterhaufen endete. Mehr wollte Galilei nicht wissen. Er widerrief seine Theorien und wurde zu lebenslangem Hausarrest verurteilt, den er auf seinem Landgut in der Toskana genoss.

Heute wird Galileo Galilei gefeiert, weil er 1633 beim Verlassen des Gerichtssaals gemurmelt haben soll: «Und sie bewegt sich doch!» Das ist zwar ziemlich sicher nicht wahr, aber doch gut erfunden. Vor allem aber gebührt ihm der positive Ruf der Nachwelt, weil er, halbblind, nächtlich bei Kerzenlicht der Zensur ein Schnippchen schlug und insgeheim weiterforschte. Noch im hohen Alter stiess er auf wesentliche physikalische Erkenntnisse betreffend den freien Fall und die Beschleunigung. Wird er zurecht gefeiert oder müsste man ihn verurteilen, weil er kein Held auf dem Scheiterhaufen sein wollte?

Galileo Galilei wählte den Wein, den Käse, die Oliven der Toskana… er wählte das Leben. Wie Assange. Beide haben unsere volle Sympathie für ihren Verzicht auf das Martyrium. Die Wahrheit braucht keine Blutopfer, sie setzt sich langfristig durch. Die katholische Kirche hat Galilei 1992 rehabilitiert, 350 Jahre nach seinem Tod. Wer weiss, ob nicht auch Assange irgendwann, so um das Jahr 2400 herum, von der amerikanischen Justiz rehabilitiert wird? Gut möglich. Denn bis dann hat sich entweder die Vernunft durchgesetzt, oder es wird diesen Planeten nicht mehr geben.

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