Demokratie dürfe nie die Diktatur der Mehrheit sein, sagen die Sachverständigen, insbesondere jene der Schweiz, diesem Musterland der Konsensdemokratie. Vielmehr sei der Schutz der Minderheiten ein Wesensmerkmal dieser Staatsform. Schöne Theorie! Derzeit steht gerade uns in der Schweiz wieder einmal das pure Gegenteil ins Haus. Wenn wir allen gezielten Indiskretionen trauen dürfen, die aus dem Bundeshaus den Weg in die Aussenwelt finden, schickt sich der Bundesrat an, aus den vier in der Evaluation verbliebenen Kampfjet-Typen denjenigen zu wählen, der eine Minderheit von 49.9 Prozent (Abstimmung über die Beschaffung vom 27. September 2020) zielsicher am heftigsten brüskiert.
Dafür passt er allen bürgerlichen Mehrheiten (im Bundesrat selbst und in beiden Kammern des Parlaments) am besten ins Weltbild, nämlich der Tarnkappenbomber F-35 des amerikanischen Herstellers Lockheed Martin. Technische Gründe werden ins Feld geführt: Das Verhältnis von Preis und Leistung! Fünfte Generation! Tarnkappentechnologie! Der Ferrari unter allen Kampfflugzeugen dieser Erde! Man sieht die Augen aller selbsternannten Sicherheitsexperten funkeln… Da mutet es wie ein dramaturgischer Verfremdungseffekt an, wenn plötzlich Insider der Rüstungsbeschaffung mit irritierenden Kommentaren abwinken. Der Luftwaffenstabschef der USA, Charles Brown, signalisierte bereits vor Monaten eine Reihe von technischen Defiziten («Republik» vom 17. Juni 2021). Der frühere Chef der Schweizer Armee, Korpskommandant André Blattmann, zieht die Budgetierung in Zweifel und rechnet viel höhere Betriebskosten vor, als sie jetzt im Voranschlag ausgewiesen werden. Blattmann rechnet mit 100'000 Franken – pro Flugstunde…! Dazu kommen, immer gemäss einem Offizier, an dessen Loyalität zur Schweizer Armee (und zu ihrer Luftwaffe) nicht die geringsten Zweifel erlaubt sind, technische Anfälligkeiten, Mängel bei der Steigfähigkeit, ein zu geringer Operationskreis und Defizite bei der Manövrierfähigkeit («Bund», 21.6.2021).
Im bürgerlichen Lager der Befürworter ignoriert man Brown, und Blattmann wird als Nestbeschmutzer dargestellt, als Dissident, als Verräter. Der Betrag, um den es geht, ist mit 6 Milliarden Franken so absurd hoch, dass keinerlei Abweichlerei von der Generallinie geduldet werden darf. Man hat linientreu zu sein, auch wider besseres Wissen, wenn ein Betrag in den Wind geschossen wird, der auf die nächsten zehn Jahre hinaus die AHV sanieren könnte. Nicht dass im vernünftigen Flügel des bürgerlichen Lagers noch Zweifel gesät würden.
Denn mit einer weiteren Volksabstimmung ist zu rechnen, und angesichts des 50,1- zu 49,9-Ergebnisses vor neun Monaten droht Ungemach. Dem Tarnkappenbomber droht nicht das Grounding, sondern der Absturz. Hintergrund der von linker Seite angedrohten Initiative ist ein klassischer Richtungsstreit in Fragen der Weltbilder. Während der SVP alles, was mit Europa zu tun hat, suspekt vorkommt – also auch die beiden europäischen Kampfjetvarianten, die zur Debatte stehen: die französische «Rafale» von Dassault oder der «Eurofighter» von Airbus – wendet sich Links-Grün dagegen, dass die Schweiz den USA Spionagemöglichkeiten auf dem Serviertablett anbietet. Denn mit dem Zuschlag für beide amerikanischen Varianten (nebst dem F-35 auch noch der F/A-18 «Super Hornet» von Boeing) ist mit absoluter Sicherheit garantiert, dass das Pentagon über die hochkomplexen installierten Softwarepakete alles mitbekommt, was von einem befreundeten Neutralen nicht in Erfahrung gebracht werden dürfte. Während man in den USA Zeter und Mordio schreit, wenn bekannt wird, wie russische oder chinesische Geheimdienste an Informationen aus technologischen, industriellen oder militärischen Bereichen westlicher Staaten heranzukommen versuchen, betrachtet man es als Gentlemansdelikt, dass die USA sich ebensolches selbstverständlich auch zuschulden kommen lässt, bis hin zur Abhörung des Handys der deutschen Kanzlerin.
Hinter dem ganzen Lärm, der in Spionagefragen von amerikanischer Seite veranstaltet wird, steckt nichts anderes als der Anspruch, dass die USA in Sachen Spionage einfach das Monopol haben möchte, von der Installierung der Software für die 5G-Netze bis in die Luftwaffen. Fatal daran ist, dass es in der Schweiz Kreise gibt, die – immer mit dem Schlagwort von der Neutralität auf den Lippen – das für ebenso normal halten wie der CIA selbst. Tarnkappe? Denkste. Solange das Pentagon spioniert, ist nichts dagegen einzuwenden (die Crypto-Affäre hat man diskret der Vergesslichkeit des Publikums überlassen…). Das Verteidigungsministerium der Nation, die 39 Prozent der weltweiten Rüstung produziert und 36 Prozent der weltweiten Rüstungsexporte verantwortet, ist jederzeit willkommen am Abhorch. Die Warnung, die Präsident (und Fünfsternegeneral!) Eisenhower vor 60 Jahren vor dem «militärisch-industriellen Komplex» als Bedrohung der Demokratie ausgesprochen hat, dürfte wenigstens bei Schweizer Neutralen ernst genommen werden. Wenn sie nicht auf dem rechten Auge blind wären.
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