Die moralische Integrität politischen Handelns bemisst sich an der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Egon Bahr, ein deutscher Aussenpolitiker der Regierung Willy Brandts, an dessen Charakterfestigkeit nicht zu zweifeln war, drückte es so aus: «In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken sie sich das, egal, was man ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.» Da wir diesbezüglich an die Staatslenker totalitärer Regimes keine Erwartungen haben, fokussieren sich unsere Beobachtungen und unsere Kritik naturgemäss auf Politiker des sogenannten Wertewestens. «Unsere» Demokratie, «unsere» Freiheit und die Menschenrechte sollten, ihren Verlautbarungen zufolge, die Leitsterne ihres Handelns sein. Das ist ihr Anspruch, dafür setzen sie sich ein, dafür werden sie gewählt.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. «Unsere» Demokratie weicht je länger desto mehr einer Allianz von Konzernmacht, Staatsapparat und Medienmanipulation. Menschenrechte sind nur noch ein Kampfbegriff für die Verurteilung diktatorischer Mächte. Freiheit ist das Recht, in periodischen Abständen wählen zu dürfen, wobei uns das genannte Mächtekonglomerat (Konzernmacht, Staatsapparat, mediale Manipulation) jeweils eine Auswahlsendung zur Verfügung stellt, die so oder so an den gegebenen Strukturen nichts ändert. Was bleibt darüber hinaus noch von der vielbeschworenen Freiheit als die Freiheit des Konsums (von der freilich nur Gebrauch machen kann, wer die entsprechenden Möglichkeiten hat)? Immerhin, so fügen wir gerne an, stehen uns in der Schweiz noch direktdemokratische Instrumente zur Verfügung, mit welchen die Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf die politischen Prozesse nehmen können. Die Möglichkeit, mit Initiative und Referendum nur schon drohen zu können, wirkt sich auf die hiesige Gesetzgebung mässigend aus und verhindert Exzesse, wie sie andernorts gang und gäbe sind. Die sonst in der westlichen Welt übliche Repräsentativdemokratie ist mehr oder weniger ein Widerspruch in sich. Alle vier Jahre einmal wählen zu dürfen, heisst für normale Menschen nichts anderes, als sich selbst für vier Jahre aus dem politischen Prozess zu verabschieden.
Die Instrumente, mittels derer die PolitikerInnen in repräsentativen Demokratien die Gräben zwischen moralischem Anspruch und gelebter Politik zuschütten, sind die politische Rhetorik und die Lügen, die mittels eines willfährigen Medienapparates verbreitet werden. Wir haben das in den letzten Jahren und Monaten anhand des Krieges in der Ukraine und des Völkermords in Palästina exemplarisch mitverfolgen müssen. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat die Sicherheit des Staates Israel zur deutschen Staatsräson erklärt (wogegen an sich nichts einzuwenden wäre, ginge es tatsächlich nur um Sicherheit). Da es aber darüber hinaus – siehe Egon Bahr – um handfeste Interessen geht (nämlich die Interessen der USA und des gesamten Westens), deuten die Regierungen des Wertewestens die Abschlachtung Zehntausender Palästinenser zur Selbstverteidigung um. Obwohl wir die Besonderheit des Verhältnisses von Deutschland zu Israel verstehen, ist durch gar nichts zu legitimieren, sich an einem Völkermord mitschuldig zu machen. Mittels sturer Unbelehrbarkeit hat man sich aus diesem Zwiespalt herausgelogen. Jede Form von Israelkritik wurde in den Medien (und teilweise sogar von den Gerichten) flugs zu Antisemitismus umgemünzt und zum Schweigen gebracht.
Aber neuerdings ist der deutsche Umgang mit der Doppelmoral komplizierter geworden. Der Antrag des Chefanklägers am Internationalen Strafgerichtshof in den Haag, nicht nur drei Anführer der Hamas, sondern gleichzeitig auch noch den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu samt dessen Verteidigungsminister Galant international zur Fahndung auszuschreiben, hat nicht nur in Israel Heulen und Zähneklappern ausgelöst, sondern stürzt auch die Ampel-Regierung in ein echtes Dilemma. Da wir davon ausgehen dürfen, dass sich der Ankläger in einer so brisanten Angelegenheit seiner Sache sehr sicher ist und dass die zuständigen Richter seinem Antrag folgen werden, müsste Netanjahu überall verhaftet werden, wo der Internationale Gerichtshof anerkannt wird. Zum Beispiel in Deutschland.
Aus den gleichen Gründen, wie Deutschland des Staat Israel seit dessen Gründung mit besonderer Umsicht begleitet, hat sich die Bundesrepublik stets auch den Weisungen des Strafgerichtshofs angenommen. Jetzt würde das bedeuten zu anerkennen, dass alles, was man zur Israel-Palästina-Frage seit mehreren Monaten geäussert hat, entweder naiv kolportiert wurde oder schlicht und ergreifend gelogen war – mit der Konsequenz notabene, dass Netanjahu, sollte er deutschen Boden betreten, stante pede zu verhaften wäre. Was selbstverständlich nicht geschehen wird, da sich Netanjahu hüten wird, eine Flussreise auf der Mosel oder einen Wanderurlaub in der Uckermark anzutreten. Aber die Peinlichkeit, die Schmach und das Dilemma für die Ampel bleiben.
Ob ihr deshalb aber ein Licht aufgehen wird, ist zweifelhaft. Anzunehmen ist eher, dass man in der Not eine dritte Stufe der Moral zünden wird, quasi als Synthese des Widerspruchs zwischen der legitimen Selbstverteidigung Israels mit 36'000 toten Palästinensern und der Weisheit des Internationalen Strafgerichtshofs, die ebenso zu respektieren sei. Das wäre die echte Dialektik: die Aufhebung eines Widerspruchs auf höherer Ebene. Etwa in der Form, dass man Gras über die Sache wachsen lässt, nicht mehr davon spricht und Herrn Netanjahu für zukünftige Ferienreisen eher einen Offshore-Staat in den Antillen empfiehlt als Heiligendamm, den mondänen Badeort an der Ostsee.
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