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Selbstinszenierung von Heinzelmännchen

 

Endlich... möchte man sagen, wird der Diplomatie Raum gegeben. Das Verdienst kommt der Schweiz zu. Bundespräsidentin Amherd, Verteidigungsministerin, und Bundesrat Cassis, Aussenminister, machen ihre Ansage wahr und laden zu einer Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock ein. Am 15. und 16. Juni soll es soweit sein. Das Datum ist bewusst in die kalendarische Nachbarschaft zum G7-Gipfel in Apulien gelegt worden, was die Chancen auf Teilnahme der überseeischen Staatschefs – auch von Joe Biden? – erhöht. An 100 Nationen werden Einladungsbriefe verschickt. In Zeiten, in denen die Kriegsgurgeln aller europäischen Länder nichts als Waffen, nur Waffen und noch mehr Waffen als mögliche Methoden zur Beendigung des Krieges sehen, ist das eine Wohltat.

Grundsätzlich wäre das so. Allein, uns fehlt der Glaube. Gewiss dürfen wir den Initiatoren Amherd und Cassis zubilligen, dass sie ehrlich daran interessiert sind, ihren Beitrag zur Friedensherstellung zu leisten. Dafür haben sie das Mandat des Gesamtbundesrates erhalten. Welches aber sind die Nebenabsichten, die sie verfolgen? Erstens ist es kein Geheimnis, dass sowohl die Walliserin wie auch der Tessiner nicht frei von Narzissmus und Koketterie sind (was wohl zu Politkarrieren dieser Stufe gehört). Was aber ins Gewicht fällt, sind – zweitens – die politischen Tendenzen, denen sie seit ihrem Amtsantritt aufsitzen.

Beide verfolgen die verstärkte Integration der Schweiz in die grossen supranationalen Organisationen. Was für Ignazio Cassis die erfolgreiche Anbindung an die EU wäre, käme für Amherd der schrittweisen Annäherung an die NATO gleich, bis hin zu gemeinsamen militärischen Manövern. Hierin sehen sie ihre Mission. Beiden ist dabei viel Beweglichkeit zu attestieren, die ihnen die Verrenkungen erlaubt, die nötig sind, um nicht mit der schweizerischen Maxime der Neutralität in Konflikt zu geraten. «Kooperative Neutralität» heisst die Übung, der sich der Aussenminister unterzieht, um den Gegensatz beider Prinzipien zu entschärfen. Es ist vor allem eine rhetorische Übung, ein Euphemismus, der verdecken soll, wie die Schweiz drauf und dran ist, die Verlässlichkeit ihres Neutralitätsbekenntnisses zu verspielen.

Tatsächlich waren Aufweichungen der strikten Neutralität der schweizerischen Aussenpolitik, seit diese von den Grossmächten anlässlich von Wiener Kongress und Pariser Frieden 1815 diktiert wurde, insbesondere aber seit der Spaltung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, gang und gäbe – geglaubt hat sie eh nie jemand. Es gibt aber absolut keinen Grund, den Rest davon gerade zum jetzigen Zeitpunkt offensiv und ohne Not zu verschleudern. Denn heute (seit dem Krieg um die Ukraine) ist die NATO nichts anderes als ein Disziplinierungsinstrument der Regierung Biden zu Lasten der EU. Diese wiederum hat sich mehr und mehr zum politischen Arm der NATO in Europa reduziert, wozu die jetzige Präsidentin der Kommission, Ursula von der Leyen, ihren aktiven Beitrag leistet. Ihr offener Flirt, die Nachfolge Jens Stoltenbergs im NATO-Generalsekretariat anzutreten, hat sie jegliche Eigenständigkeit gegenüber den USA aufgeben lassen. Stattdessen untergräbt sie innerhalb der EU die Autonomie der Nationalstaaten, wo immer sich Gelegenheit bietet. Dass Amherd und Cassis die Schweiz angesichts davon einerseits der NATO, andererseits der EU an die Brust werfen möchten, wäre eine Form von nationaler Selbstaufgabe.

Gerade in diesem Verdacht steht aber ihr beidseitiges Engagement in Sachen Bürgenstock: dass sie sich benutzen lassen, zu Handlangern der Interessen von USA und EU zu werden. Es gibt keine andere Macht, die derart virtuos andere Staaten für ihre Zwecke instrumentalisiert, wie die USA. Wie soll Cassis einem Joe Biden gewachsen sein? Wie Amherd einem Lloyd Austin? Zumal dann, wenn – woran kein Zweifel besteht – alle europäischen Nachbarn unter einem Frieden ebenfalls nur eine pax americana verstehen?

Cassis ist es nicht gelungen, seinen russischen Amtskollegen Lawrow eine Teilnahme beliebt zu machen. Wie sollte dies auch möglich sein, wenn die Schweiz bereits vor zwei Jahren dem Druck der EU nachgegeben und die Sanktionen gegen Russland übernommen hat? Wenn Cassis seither bei allen Gelegenheiten Selenski abküsst und die Ukraine der ewigen Freundschaft versichert? Und wenn auf dem Bürgenstock nur Selenskis 10-Punkte-Plan Diskussionsgrundlage sein soll, nicht aber die Vorschläge aus der BRICS-Welt, von China, Südafrika und Brasilien? Im Flirt um die Zuneigung von EU und NATO hat die Schweiz spätestens vor zwei Jahren ihre Neutralität verspielt. Schlechte Voraussetzungen, um sich jetzt als Friedensvermittler zu inszenieren. Hätte man vor zwei Jahren mehr Rückgrat als Neigung zum Populismus bewiesen, so hätte etwas daraus werden können.

Was wir seither gelernt haben, ist dieses: Die Sanktionen waren ein Schlag ins Wasser. Ausser Russland selbst haben sie nur den Amis geholfen – für Europa sind sie ein Fiasko. Putin hat die Sanktionen antizipiert und Europa gezeigt, wie Diplomatie geht. Seine Hauptpartner sind die beiden bevölkerungsreichsten Nationen der Welt mit den entsprechenden Märkten: China und Indien. Dazu kommen die weiteren BRICS-Staaten, insgesamt die Hälfte der Menschheit. Auf Europa kann Putin verzichten, auf China und Indien nicht. Will die europäische Diplomatie Erfolg haben, dann sind EU und NATO gut beraten, sich an diese Mächte zu halten. Von Russland Gesprächsbereitschaft zu erwirken, kann nur über Xi Jinping und Narendra Modi führen. Diskussionen, wie sie Europa pflegt (würde der Taurus die Wende bringen? Warum zögert Scholz?) sind demgegenüber an Dümmlichkeit nicht zu überbieten.

Insbesondere China aber liebt die Diskretion. Wer mit China reden will, muss die Verhandlungen im Geheimen vorbereiten und führen. Ob Aktionen im Stile von Amherd und Cassis, denen der Charakter von gutgemeinten Selbstinszenierungen von Heinzelmännchen anhaftet, dabei hilfreich sind, ist hoch fragwürdig. Positiv bleibt einzig, dass endlich, endlich der Diplomatie Raum gegeben wird. Wäre es eine echte Diplomatie und nicht nur eine diplomatia americana, hätte sie vielleicht sogar eine Chance.

 

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