Schlafen Sie gut, Herr Tucholski
- Reinhard Straumann
- 10. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
In bewegtesten Zeiten, am 27. Januar 1919, mitten in der Deutschen Revolution, als nicht nur in der deutschen Presselandschaft scharf geschossen wurde, riet Kurt Tucholski zur Mässigung. Mache einer einen politischen Witz, mahnte er, «dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.» Seht das nicht so eng, war seine Empfehlung. Turbulente Zeiten erzeugen eine turbulente Sprache. Diese auszuhalten, gehört ins Anforderungsprofil jedes Politikers. «Was darf die Satire?», fragte Tucholski in diesem Text, den er ins Berliner Tageblatt einrückte. «Alles», antwortete er gleich selbst.
Das war die hohe Zeit der Satire. Es ist lange her. Schlafen Sie gut, Herr Tucholski! Ruhet sanft, Theobald Tiger, Peter Panther, Kaspar Hauser… und welches der Pseudonyme mehr sind, mit denen sich Tucholski bedeckte. Ihr konntet nicht voraussehen, dass eines Tages die Politik selbst der Satire den Zahn ziehen würde. Vor vier Jahren hat der Bundestag das Strafgesetzbuch um einen Paragrafen erweitert, der Personen des öffentlichen politischen Lebens Denkmalschutz gewährt. Sei vorsichtig, wenn Du Dich in der Öffentlichkeit gegen Drittpersonen äusserst: Handelt es sich um Politikerinnen oder Politiker, so ist das nicht wie bei Hinz und Kunz. «Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts eine Beleidigung aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.» (§ 188 StGB.)
Wer damals glaubte, bei dieser Gesetzesnovelle handle es sich um einen Tiger aus papier maché, der kaum je in die Gerichtsrealität gezerrt würde, sah sich getäuscht. Im November 2024 entlarvte das Magazin FOCUS die Zahl 805 in Sachen Robert Habeck. So viele Strafanträge wegen Beleidigung hatte der Vizekanzler seit Amtsantritt eingereicht. Dicht gefolgt von seiner Parteifreundin Baerbock. Wie es sich mit den Kriegsgurgeln aus der FDP verhält, beispielsweise der Rüstungslobbyistin Agnes Strack-Zimmermann, die aus der Verfolgung missliebiger Äusserungen gegen ihre eigene Person ein eigentliches, einträgliches Business gebaut hat, entzieht sich unserer Kenntnis.
Im Einzelnen sieht das so aus: Ein unbescholtener Bürger, der auf einer sozialen Plattform einen satirischen Post weitergeleitet hat (beispielsweise eine modifizierte Werbung des Haarpflege-Unternehmers SCHWARZKOPF mit einem Habeck-Porträt, auf dem dann nicht mehr SCHWARZKOPF, sondern SCHWACHKOPF steht), wird per polizeiliches Überfallkommando morgens um fünf Uhr aus dem Bett geholt; er muss eine Hausdurchsuchung (mit Konfiskation seines Computers) geschehen lassen. Der jüngste Fall betrifft die Innenministerin Faeser, die mit einem weissen Plakat posiert, auf welchem «ICH HASSE DIE MEINUNGSFREIHEIT» zu lesen ist – natürlich eine Fotomontage. Der Weiterleiter des Posts, David Bendels, Chefredakteur des Online-Magazins DEUTSCHLAND KURIER, erhielt eine (bedingte) Gefängnisstrafe von sieben Monaten aufgebrummt.
Wie viel erhält ein alkoholisierter Raser, der einen Unbeteiligten zu Tode fährt?
Die grundsätzliche Frage lautet: Welches ist das höhere Gut, die Meinungsäusserungsfreiheit im öffentlichen Diskurs oder der Persönlichkeitsschutz eines Betroffenen? Und wo beginnt dieser? Die gängige Rechtspraxis in Deutschland und in der EU, wo man in Sachen Meinungskontrolle ebenfalls an einem neuen Verhaltenskodex arbeitet, hat bisher nur Informationen inkriminiert, die klare Fake-News enthielten. Das ist anders seit dem SCHWACHKOPF: ob Habeck einer ist, wird sich objektiv kaum je feststellen lassen.
In den USA, wo sich die oberste Politik bekanntlich seit Neuerem mit der High-Tech ins Bett legt (lassen wir offen, für wie lange), wird ein zensurfreies Netz als Basis der Demokratie gefeiert und gefordert. Da diese Haltung einem Freifahrschein für persönlichkeitsverletzende Äusserungen gleichkommt, wollen wir davon keine demokratiestabilisierende Wirkung erhoffen. Wenn wir andererseits aber zur Kenntnis nehmen, dass ein Trampolin-Witz einen Strafbefehl und eine Busse von 800 Euro nach sich zieht (die gewesene Aussenministerin Baerbock soll eine begabte Trampolina gewesen sein), während der Ausdruck «Nazi-Nutte», mit dem die AfD-Abgeordnete Joana Cotar auf X bedacht wurde, nur zu einem Verfahren führte, welches das zuständige Gericht postwendend einstellte, dann sind wir doch irritiert. Die ganze Rechtsanpassung zum «Schutz der Demokratie» dient mitnichten dazu, «illegale Hassreden» zu unterbinden. Was hier vorgeht, ist die Instrumentalisierung des Verwaltungsapparates zu totalitären Zwecken. Mit Einschüchterungsurteilen soll potentiellen Nachfolgetätern und Trittbrettfahrern die Lust an der Meinungsfreiheit ausgebrannt werden.
In der Schweiz gibt es keinen besonderen Schutzstatus für gesellschaftliche Gruppen in Sachen Meinungsäusserung, auch nicht für die vielen so arg leidenden Politikerinnen und Politiker. Das Prinzip der Rechtsgleichheit gilt. Einmal mehr möchte man unseren Freunden in Deutschland und in der EU zurufen: Schaut doch einmal zu uns herüber. Wir machen Euch gerne einen Grundkurs Demokratie. Dessen erster Punkt lautet: Demokratie geht bottom-up, nicht top-down.
Noch vor kurzem war es in politischen Diskussionen ein sicherer Punkt, zu Gunsten der westlich-demokratischen Gesellschaften zu sagen: Für eine kritische Meinungsäusserung bist Du bei Putin im Handumdrehen im Arbeitslager. Nicht so bei uns! Hier gilt immer noch die Meinungsäusserungsfreiheit.
Das war einmal. Schlafen Sie gut, Herr Tucholski.
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