Eine Woche nach Deutschland (Bundesländer Bayern und Hessen) hat jetzt auch die Schweiz gewählt. Das Ergebnis ist mehr oder weniger identisch (was die deutsche Presse nicht an der Aussage gehindert hat, die Schweiz habe gerade eben ihr «hässlichstes Gesicht» gezeigt). Daran kann auch die nachträgliche Korrektur der schweizerischen Wahlresultate, die das Bundesamt für Statistik im ersten Aufguss vermasselt hatte, nichts ändern. Fazit allerorts: Die Polparteien rechts (AfD, SVP) legen zu, die Parteien der Mitte halten sich gerade, die schweizerischen Sozialdemokraten notieren ein rosarotes Plus, die SPD in Deutschland ist ampelgeschädigt. Am anderen Ende des Spektrums erleben die Grünen das Totalfiasko, in Deutschland noch deutlich stärker als in der Schweiz (man darf sich fragen, ob nicht die schweizerischen Grünen mit in den Strudel ihrer bundesdeutschen Farbverwandten gerissen wurden). Und in Deutschland gibt es ja noch die Linke, der nicht durch die Wahlen, sondern durch Sahra Wagenknecht, die gemeinsam mit neun Genossinnen und Genossen aus Partei und Fraktion ausgetreten ist, der Boden unter den Füssen weggezogen wurde. Sahra Wagenknecht ist daran, eine neue Partei zu gründen und mit ihr die deutsche Parteienlandschaft aufzumischen.
Es wurde höchste Zeit. Denn nebst allen Wahl-Erkenntnissen hüben und drüben hat sich in der Gesamtschau vor allem eines gezeigt: Die traditionelle Begrifflichkeit, mit welcher wir uns seit der Französischen Revolution durch die politische Landschaft tasten, die Flügelzuordnungen «links» und «rechts», haben ausgedient. Sie tragen heute zur Erklärung politischer Stossrichtungen gar nichts bei, dienen nur noch als Kampfbegriffe, und zwar aus der Perspektive der jeweiligen Gegner. Wer früher «links» war, diffamiert seine aktuellen Gegner mit «rechts» oder mit «rechtsextrem», wer «rechts» war, versucht, das Vis-à-vis mit «links» oder mit «Sozialismus» herunterzumachen.
Das bringt gar nichts. Die Parteien haben bestimmte Positionen, die über Jahrzehnte als unverrückbar galten, in der Folge des Ukraine-Kriegs aufgegeben. Die Virtuosen der Fahnenflucht sind die «Linken», das rot-grüne Farbenspektrum. Zwar widmet man dem Kampf gegen die Exzesse des Kapitalismus noch immer die eine oder andere Parole, aber die Amerika-Kritik, die notwendigerweise mit diesem Kampf verbunden war, ist ausgelöscht. Im Gegenteil. Man biedert sich der kriegsversessenen Aussenpolitik des senilen US-Präsidenten an und übersieht, mit Blindheit geschlagen, dass gerade sie die schlimmste Seite des Turbo-Kapitalismus ermöglicht. Und das alles aus Angst, «moralisch» nicht korrekt dazustehen. Lieber macht man (in Deutschland, wo die Grünen mit dem Wirtschafts- und dem Aussenministerium zwei Schlüsselposten der Regierung besetzen) die eigene Wirtschaft kaputt und hält sich dabei für sehr vorbildlich. Teilweise noch dieselben roten und grünen Linken (oder doch ihre Väter und Mütter), die in den 70er-Jahren vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs noch «Ho-ho-Ho-Tschi-Minh» skandierten, brächten nie und nimmer ein «Pu-pu-pu-Putin» über die Lippen. (Was tatsächlich des Guten zuviel wäre… aber den historischen Vergleich ist dieser Gedanke allemal wert.) Die Grünen kämpfen mit Mitteln um die Energiewende, die den Strom verteuern und der Wirtschaft die Konkurrenzfähigkeit rauben, und die Roten haben sich ersatzweise den Kampf um ein paar Restposten der Gleichberechtigung und ums Gendersternchen verschrieben. Es ist zum Heulen.
Derweil haben die Menschen ganz andere Sorgen. Sie haben Angst vor dem Krieg, Angst vor der Teuerung, Angst vor der Migration. Die traditionell «Rechten», die AfD und die SVP, nehmen sich dieser Ängste an und bedienen sie – halt eben in ihrer traditionellen Art und Weise, das heisst, indem sie diese Ängste schüren. Insbesondere in Sachen Migration. Statt dass die SVP in der Schweiz anlässlich der letzten Bundesrats-Ersatzwahl eine starke Bundesrätin gewählt hätten, wählten sie eine Schwache, gaben ihr das Migrations-Dossier und jammern jetzt über ihre mangelnde Durchsetzungskraft. Natürlich suggerieren sie: Wählt uns, mit uns wird es besser. Mitnichten, wie auch? Im OECD-Bericht betrug die Zunahme der Zuwanderung in Europa im letzten Jahr 26 Prozent, in der Schweiz nur 17. Wo soll hier effektiver Handlungsspielraum liegen?
Ebenso verhält es sich in der Teuerungsfrage, die wesentlich durch Mietpreise und Gesundheitskosten getrieben wird. Auch hier von rechter Seite: viel Lärm um gar keinen Verbesserungsvorschlag. Sowohl in Sachen Miet- wie Gesundheitskosten hält man von der Mitte nach rechts den Lobbyismus der Baukonsortien, der Pharmaindustrie und der Krankenkassen für gesund und will weiterhin mit «Appellen» (an den Anstand…) arbeiten. Wir haben gesehen, was das gebracht hat.
Aber immerhin: In Sachen Krieg – und das ist betreffend aktueller Menschheitsbedrohung der dringlichste Punkt – haben die Rechten den Linken die Schlüsselfrage entwunden, die in sich verknüpfte Amerika- und Kapitalismuskritik. Neulich hat man aus einer Konferenz der Interessenvertreter weltweiter Rüstungskonzerne (in Kiew) aus dem Mund eines amerikanischen Generals vernommen: Machen wir es wie die Computer-Drucker-Industrie. Die machen ihr Geld auch nicht mit der Hardware, sie machen es mit der Tinte. Dazu folgende Fussnote: Der Preis für eine 15,5mm-Haubitzengranate ist während des Ukraine-Kriegs von 2000 auf 8000 Dollar gestiegen.
Fragen wir uns ernsthaft, weshalb der Krieg andauert? Weshalb die deutsche «linke» Aussenpolitik für den Gaza-Streifen einen Waffenstillstand aus humanitären Gründen ablehnt, während die Falken im Pentagon tönen, man könne sich auch drei Kriege leisten, in der Ukraine, in Nahost, in Taiwan? Es ist eine Katastrophe, es ist eine Schande.
Sahra Wagenknechts neues Parteiprojekt ist ein Silberstreif am Horizont. Sie hat den Mut und den Intellekt, nicht einfach Ängste zu schüren, sondern alternative Handlungsweisen voranzutreiben. Und das erstarrte Links-/Rechtsschema aufzuweichen. Es würde, wie alles, auch auf die Schweiz abstrahlen.
Comments