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Einbeiniges Eimerpinkeln

In Washington D.C. wird dieser Tage die Erinnerung an einen Nationalhelden der besonderen Art aufgefrischt. Er heisst Strom Thurmond, war Senator für South Carolina, und er stand immer dann besonders unter Strom, wenn der Kongress Ernst damit machte, den Schwarzen Schritt für Schritt zur verfassungsmässig garantierten Gleichberechtigung zu verhelfen. Folgerichtig wechselte er im Jahr 1964 von den Demokraten, denen er bislang angehört hatte, zu den Republikanern, als das Parlament mit Mehrheit der Demokraten den «Civil Rights Act» verabschiedete, der die Rassendiskriminierung ein für allemal beerdigen sollte. Bereits sieben Jahre zuvor hatte eine Vorstufe dieses Gesetzes die Hürden des Kongresses genommen, als es darum ging, allen Amerikanern, egal welcher Hautfarbe, die Wahrnehmung ihres Wahlrechtes zu garantieren. Das war die Bühne für Thurmonds grossen Auftritt – der allerdings vergeblich war, denn das Gesetz kam mit klaren Mehrheiten durch beide Kammern. Aber Thurmond war unvergänglicher Ruhm nicht mehr zu nehmen. Er ging in die Geschichte ein als derjenige, der für die Apartheid das Martyrium eines Blasenrisses riskierte.

Folgendes muss man dazu vorausschicken: Im Senat der USA, wo es keine Redezeitbeschränkung gibt, besteht für eine parlamentarische Minderheit die Möglichkeit, ein Gesetz zu verhindern, indem die Abstimmung darüber durch Endlosreden noch und noch verzögert wird – durch einen sogenannten «Filibuster». Der ursprünglich spanische Begriff «filibustero» stammt aus Südamerika; er wurde im 19. Jahrhundert für Freibeuter, gesetzlose Plünderer, verwendet. In gesetzloser Weise eine Parlamentsdebatte zu usurpieren, ist, davon abgeleitet, der Verwendungszweck des Begriffs im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart.

Thurmond hat sich seinen Platz in der Hall of Fame dadurch gesichert, dass er den längsten Filibuster der Geschichte hielt. Am 28. und 29. August 1957 redete er geschlagene 24 Stunden und 18 Minuten. Ein rhetorisches Feuerwerk war es nicht, womit er seine Ratskollegen ins Koma brummelte, denn mit solchem Talent war er nicht gesegnet. Vielmehr streckte er seine Redezeit wie einen endlosen Kaugummi, indem er zitierte und zitierte: die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, ihre Verfassung samt allen Zusätzen, schliesslich, in alphabetischer Reihenfolge, die Wahlgesetze sämtlicher Bundesstaaten. Auch Kuchenrezepte seiner Grossmutter vermochte er unterzubringen – es war alles eins. Thurmond hatte vor seinem Marathonspeech eine Sauna aufgesucht, um sich prophylaktisch zu entwässern. Hätte ihn dennoch ein menschliches Bedürfnis erfasst, wäre ausserhalb des Ratssaals ein Kollege mit einem Eimer bereitgestanden, um Thurmond, mit einem Bein noch im Saal stehend, den Redestrom nicht unterbrechen zu lassen. Ob es dazu kam, ist nicht überliefert. Am Ende seiner 24 Stunden soll Strom nur noch heiser gelallt haben. Es war für die Katz’. Kurz nach seiner Rede, nach insgesamt 57 Tagen «Debatte», als der Senat kein anderes Thema beraten konnte, schritt man zur Abstimmung. Das Ergebnis ist bekannt.

Das alles wäre nichts als eine Fussnote in der Geschichte, bestenfalls als Anekdote erzählenswert, wenn wir seither die graue Vorzeit hinter uns gelassen hätten. Leider ist das nicht der Fall; wir sind keinen Schritt weiter. Gegenwärtig müht sich Präsident Biden, ein Gesetz durchs Parlament zu bringen, das offenkundigen Rechtsmissbrauch von Seiten der republikanischen Abgeordneten im Senat verhindern will. Wieder einmal geht es um Rassendiskriminierung. Seitdem Donald Trump seine Lüge von der gestohlenen Wahl zum Narrativ aller ihm hörigen Abgeordneten gemacht hat, sind in 19 (republikanisch regierten) Einzelstaaten 33 Gesetze erlassen worden, die darauf abzielen, den «PoC», People of Colour, das Wahlrecht durch Schikane oder «Gerrymandering» zu beschneiden. Letzteres ist das beliebige Umorganisieren von Wahlkreisen, um Gebiete mit republikanisch gesinnten Bevölkerungsgruppen zu begünstigen.

Um solchen Missbrauch zu verhindern, will Biden eine nationale Wahlrechtsreform. Sie soll unter anderem den Filibuster wenigstens dann ausser Kraft setzen, wenn es um Wahlrechtsgesetze geht. Grundsätzlich würden dazu die Mehrheitsverhältnisse ausreichen. Diese liegen exakt bei 50 zu 50 zwischen beiden Parteien, und der Stichentscheid der Senatspräsidentin – in Personalunion identisch mit der Vizepräsidentin Kamala Harris – wäre den Demokraten gewiss. Deshalb drohen die Republikaner jetzt mit dem Filibuster. Strom Thurmond selig (der nicht an einem Blasenriss zugrunde gehen musste, sondern 2003 im methusalemischen Alter von 101 starb) lässt grüssen. Anzumerken ist allerdings, dass zwei Abgeordnete aus den eigenen Reihen – Joe Manchin und Kyrsten Sinema, rein zufällig diejenigen, die auch Bidens Infrastrukturprojekt bodigen wollen… – angekündigt haben, sich gegen die eigene Partei zu stellen. Für sie ist der Filibuster die Pièce de résistance der parlamentarischen Kultur. Ohne Filibuster drohe politisch «die Hölle» (wörtlich).

Das ist das Schauspiel, das auf der Bühne der Schutzmacht der westlichen Demokratie derzeit gegeben wird: Wie lassen sich mit möglichst undemokratischen Methoden möglichst demokratiefeindliche Ziele erreichen. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Oder, wie Friedrich Dürrenmatt gesagt hat: Uns ist nur noch mit der Komödie beizukommen. Wem es nicht zu peinlich ist, die politische Bühne zu benutzen, um einbeinig in einen Eimer zu pinkeln, der taugt noch immer für den amerikanischen Senat. Und wichtig für uns Europäer bleibt, dass wir allzeit unsere demokratischen Vorbilder hochhalten.

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