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AutorenbildReinhard Straumann

Noch ein Virus

Unsere Hoffnung war, einer der wenigen positiven Effekte der Pandemie könnte darin liegen, dass man auch in Wirtschaftskreisen über die sichtbar werdende Ungleichheit der Wohlstandsverteilung einsichtig würde. Corona hat die Wohlstandsschere rasant geöffnet, wodurch die Gefahren erkennbar wurden, die in der wachsenden Ungleichheit lauern. Und tatsächlich, da und dort gab es entsprechende Signale. In der Politik und in den obersten Kadern der Wirtschaft ist man sich einig geworden, Kurskorrekturen seien dringend. Sogar im virtuellen WEF sprach man plötzlich von «disruptiven Zeiten», die einen «besseren Kapitalismus» nötig machten. Aber es blieb bei der Hoffnung. Was wir sehen ist: Wenn bestimmte Konzerne irgendwo ein neoliberales Projekt wittern, dann ist es um die guten Vorsätze geschehen.

Anlass zu dieser Überlegung gibt die in drei Wochen bevorstehende Abstimmung über die elektronische ID («Bundesgesetz über elektronische Identifizierungsdienste», E-ID). Die Sache soll hier nicht diskutiert werden: Die Notwendigkeit der Einführung einer elektronischen Identifizierungsmöglichkeit liegt auf der Hand, denken wir nur an die Steuererklärung oder an die Eröffnung eines Bankkontos oder an unser Patientendossier – lauter Dinge, die etwa in der kleinen baltischen Republik Estland auch auf elektronischem Weg seit bald zehn Jahren funktionieren (mit Ausnahme von Zug und Schaffhausen, wo das kantonal auch schon geht).

Das Problem ist die staatliche Hoheit der Identitätsbestätigung. Der Bund ist drauf und dran, eine Aufgabe, die er beim roten Pass und der ID-Karte seit je mit Selbstverständlichkeit übernimmt, in Sachen E-ID an Private auszulagern. Er will diejenige Variante der Identitätsfeststellung kommerzialisieren, die wir in Zukunft am meisten gebrauchen werden. Das ist der Inhalt der aktuellen Vorlage, über die wir am 7. März abstimmen. In der Vernehmlassung äusserten sich sehr viele bürgerliche Teilnehmer kritisch dazu und in Meinungsumfragen wurde der Vorschlag geradezu zerzaust. Aber in der Debatte in National- und Ständerat kippte der bürgerliche Block plötzlich um und hiess die Privatisierung gut. Was ist zwischen-zeitlich passiert?

Ein neuer Player mit dem Namen Swiss Sign ist auf den Plan getreten und hat heftig lobbyiert. Dahinter stehen Grossbanken, Versicherungen, Krankenkassen… die üblichen Verdächtigen. Um deren Interesse an der Sache zu klären, muss man verstehen, wie das Modell der E-ID funktionieren soll: Aufgabe des Bundes ist es, die Identität einer Person festzustellen, die eine E-ID beantragt. Dann zertifiziert der private Aussteller der E-ID – höchstwahrscheinlich die Swiss Sign – die Identität und zieht fortan bei jedem Einloggen, das eine elektronische Identifizierung erfordert, ein paar Rappen ein. Und zwar nicht vom Kunden, sondern vom Anbieter der Leistung, die der Kunde in Anspruch nehmen will. Die Idee ist bestechend: Dem Kunden wird vorgegaukelt, die Sache sei «gratis» (aber selbstverständlich wälzt der Anbieter die Kosten auf den Kunden ab). Indem sich die kleinen Beträge, die man im Einzelnen kaum wahrnimmt, zum Milliardenspiel zusammenläppern, macht der Aussteller der E-ID das grosse Geschäft – respektive die Shareholder jener Konzerne, die im Konsortium Swiss Sign versammelt sind. Es ist ein geradezu idealtypisches Beispiel eines neoliberalen Projektes.

Der Neoliberalismus ist jenes ökonomische Konzept, das in den 1980er-Jahren der sozialen Marktwirtschaft ein Ende setzte. Entworfen von Milton Friedman an der Universität von Chicago, setzte es radikal auf die Idee, dass der Staat alle Aufgaben abstossen sollte, mit welchen in irgendeiner Form Geld verdient werden kann. Privatisierungen am laufenden Band und Abbau des Service publique waren die Folge. Gleichzeitig unterzogen sich die Staaten einer Selbstentwertung, indem sie nach und nach das Mantra der Privaten übernahmen, dass diese sowieso alles besser könnten (Corona hat mittlerweile gezeigt, wie gut die Privaten funktionieren ohne die öffentliche Hand…). Freiwillig strecken die Staaten die Waffen. Das Beispiel der schweizerischen E-ID führt es uns vor: Der Bund bekennt, er sei gar nicht in der Lage, ein so komplexes elektronisches Problem wie dasjenige der E-ID zu lösen (obwohl Estland es kann und sogar – man staune! – die Kantone Zug und Schaffhausen).

Das ist selbstverständlich Schwachsinn. Denn wenn es so wäre, dann bedeutete dies in einer Zeit der galoppierenden Digitalisierung nichts Geringeres als die Selbstaufgabe des Staates. Wäre es wahr, dann müssten sich die Staaten auf die Funktion der Verwaltung der Dinge zurückziehen, dem arbeitstätigen Teil der Bevölkerung die Steuern abnehmen (und dafür die Unternehmenssteuern senken) und den Konzernen alle Wünsche von den Augen ablesen.

Wollen wir das? Gewiss nicht. Aber exakt das ist es, was die mächtigsten Teile der Wirtschaft anstreben. Und je mehr Aufgaben sie von den Staaten übernehmen, desto unfähiger werden diese, überhaupt noch irgendwelche Sachleistungen zu bewältigen. So liefert sich der Staat Schritt für Schritt der Wirtschaft aus – immer mit dem von den Konzernen gewünschten Effekt, die Umverteilung von unten nach oben voranzutreiben. Oxfam, ein internationaler Verbund von Entwicklungsorganisationen, spricht vom «Virus der Ungleichheit», wenn wir diesen neoliberalen Projekten nicht endlich den Riegel schieben. Eine Impfung wäre dringend angesagt.

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