Kulturelle Identität
- Reinhard Straumann

- vor 8 Stunden
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In der Tschechischen Republik wurde vor drei Wochen ein neues Parlament gewählt. Ergebnis: Tendenz rechts. Jetzt konnten sich drei Parteien auf eine neue Regierung einigen. Die Wahlsiegerpartei ANO (auf Deutsch: Ja!) wird mit den rechtskonservativen «Motoristen» (wie unsere Autopartei vor dreissig Jahren…) und der rechten Flügelpartei SPD eine Koalition eingehen, erklärte ANO-Chef Andrej Babis. Der Koalitionsvertrag wird am kommenden Montag unterzeichnet, wenn die neue Abgeordnetenkammer erstmals zusammenkommt. Babis, der schon einmal Ministerpräsident war, wird damit eine zweite Amtszeit antreten können.
Nach Ungarn, der Slowakei und Polen (Donald Tusk, der neoliberale Ministerpräsident, muss sich seit Juni dieses Jahres mit dem rechtsbürgerlichen Staatspräsidenten Karol Nawrocki arrangieren) jetzt also Tschechien. Und die östlichen Bundesländer Deutschlands, wo einst die DDR war, sind fest in Händen der AfD. Driftet Osteuropa nach rechts? Ja. Müssen wir uns Sorgen machen? Nein.
Wohlverstanden: Ich selbst war, nach traditionellem Begriffsverständnis, nie ein Rechter und werde es nie sein. Aber so einfach ist es heutzutage nicht mehr. Heute stelle ich Verschiebungen im überlieferten Verständnis von rechts und links fest, die dringend eine differenzierte Begriffsbestimmung nötig machen.
Schauen wir auf die Innenpolitik der genannten Länder, dann kommen uns tatsächlich manche Dinge suspekt vor, von den Wahlrechtsreformen in Ungarn bis hin zur Justizreform in Polen. Und wenn, wie im Falle Tschechiens, einer der reichsten Männer des Landes nach der Macht greift (Babis ist ein Multimilliardär, der sein Geld mit Agrochemie gemacht hat), dann tönt das nicht zwingend sympathisch – wir kennen genügend Beispiele aus der westlichen Welt, die uns verdächtig vorkommen. Aber wenn es um aussenpolitische Fragen geht, dann gilt nicht nur Entwarnung, dann sind die neueren osteuropäischen Rechtstendenzen ein Lichtblick.
«Rechts» zu sein (solange wir von gemässigten Begriffsinhalten ausgehen) heisst heutzutage zweierlei: Erstens, dass jemand nicht gewillt ist, die grossen Probleme, welche die Migration in Europa hervorgerufen hat, als harmlos hinzunehmen. Und zweitens, dass diese Menschen nicht bereit sind, sich dem Brüsseler EU-Diktat widerspruchsfrei zu fügen. Das, was heutzutage als «rechts» gilt, kann man durchaus als dringend notwendige Korrektur des Kurses der EU anschauen. Wer genau hinschaut, erkennt schnell, dass die EU sich nur hinter einer linksliberalen Fassade tarnt. Im Grunde steht sie deutlich weiter rechts als diejenigen, denen sie das Rechts-Sein vorwirft. Diejenigen, die am lautesten die liberale Demokratie für sich reklamieren, sind die gefährlichsten Wölfe im Schafspelz.
Die EU, von welcher uns Kanzler Kohl bei ihrer Gründung einst weiszumachen versuchte, sie sei ein «Europa von unten», ist zum Gegenteil aller Versprechungen verkommen. Sie ist ein von einem Wasserkopf geleiteter Moloch der Wirtschaftsmacht, durch und durch undemokratisch in ihren Strukturen und Ausprägungen. Sie beschneidet, um ihre Macht zu sichern, die Meinungsfreiheit, wo sie nur kann. Sie untergräbt die Souveränität ihrer Mitgliedsländer. Sie mischt sich je länger desto unzulässiger in die Weltpolitik ein, entscheidet über Krieg und Frieden, beschliesst Sanktionen über Sanktionen, finanziert Waffenlieferungen ohne Unterlass. Sie ist die europäische Fraktion der NATO geworden. Die globalisierte, neoliberale Konzernmacht hat in der EU ein Instrument gefunden, um ihr Interesse an einer Schwächung Russlands zu konsolidieren; sie tut das, indem sie den Ukrainekrieg perpetuiert. Wie intransparent ihre Führung ist, zeigen die Skandale um mysteriös verschwundene Korrespondenzen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ihre Deals mit grossen Konzernen betrafen (z.B. mit Pfizer während der Pandemie). Von einem paritätischen Abbild der Meinungen, die sich in den Staaten Europas gebildet haben, kann keine Rede sein. Dass die Schweiz danach trachtet, sich diesem System der Demokratiefeindlichkeit anzunähern, zeigt, wie sehr die internationalen Konzerne auch hierzulande den Diskurs bestimmen. Die Menschen – wenn sie unvoreingenommen informiert wären – könnten sich damit niemals einverstanden erklären. Und dass innerhalb der Schweiz Parteien wie die SP, die Mitte oder die Grünen sich der EU an den Hals werfen, ist eine Absurdität sondergleichen, die zeigt, wie sehr die Orientierung verloren gegangen ist.
«Neoliberal» zu sein, hiess immer, rechts zu stehen, nämlich die Freiheit des (mächtigsten…) Individuums über das Gemeinwohl zu stellen. Dagegen ist aus demokratischer Sicht a priori nichts einzuwenden; das ist eine politische Positionierung, die wir kennen, seit es das moderne politische Spektrum gibt. Verwerflich sind dagegen die undemokratischen Attribute, die in den letzten Jahrzehnten hinzugekommen sind: gegen die Meinungsfreiheit zu sein, ausschliesslich die Interessen wirtschaftselitärer Gruppen zu vertreten, die die globalisierte Konzernmacht steuern, die für den Technofeudalismus sind und für die Kleptokratie einer dünnen oligarchischen Oberschicht.
Solche Interessenspolitik ist deshalb so gefährlich, weil sie die grossen, meinungsbildenden Medien steuert. Damit hat sie eminente Möglichkeiten, die politischen Prozesse zu beeinflussen. Sie kopiert insgeheim die politischen Programme der Rechten (um deren Wähleranteile auf ihre Seite zu schaufeln), während sie in ihrer Rhetorik lauthals darüber schimpft und sie hinter Brandmauern ausgrenzt. Man will kaschieren, dass sie längst die Rechten rechts überholt hat.
Wohlverstanden: Wir reden hier nicht den Ewiggestrigen rechten Splittergruppen das Wort, die Fackelmärsche veranstalten und einen militanten Ausländerhass pflegen (und die wir, weil sie über keine Medienmacht verfügen, auch nicht als besonders gefährlich anschauen). Wir sprechen vielmehr von denjenigen, die sich ernsthaft Sorgen machen über den Fortbestand der europäischen Kultur, in welcher die «westlichen Werte» tatsächlich noch (und nicht nur rhetorisch) hochgehalten werden. Wir reden von der «kulturellen Identität». Denn den Neoliberalen ist nichts mehr egal als diese. Deshalb machen wir uns keine Sorgen, wenn irgendwo – beispielsweise in Osteuropa – rechte Gruppierungen den einen oder anderen Wahlsieg erringen. Es handelt sich um heilsame Kurskorrekturen gegen den universalen Neoliberalismus der EU, der irgendwelchen Interessen dient, aber gewiss nicht der europäischen kulturellen Identität. Ohne diese aber wäre Europa verloren.


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