In Zeiten wie diesen, in denen die Umverteilung von unten nach oben galoppiert, in denen die soziale Not von vielen sich vermehrt, der Mittelstand bröckelt und der Reichtum von wenigen schier aus den Nähten platzt, müssen wir uns meist mit der vagen Hoffnung trösten, dass es auch einmal wieder anders kommen wird. Denn die Geschichte lehrt, dass auf Zeiten, in denen viel von «Freiheit» die Rede ist (womit so gut wie immer die Freiheit des Kapitals gemeint ist), immer wieder Zeiten kommen, in denen die Gerechtigkeit obenaus schwingt. Das Beunruhigende bei diesem Gedanken ist aber stets die Frage, welche Umstände vorliegen müssten, damit eine Trendwende tatsächlich realisiert werden könnte – damit endlich auch die Entscheidungsträger in der Wirtschaft ein Einsehen hätten oder die Theoretiker an den renommierten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Hochschulen dieser Welt. Fest steht, dass nur gigantische Kräfte das Umlenken bewirken könnten, zum Beispiel ein Krieg grösseren Ausmasses oder eine Weltwirtschaftskrise… Aber wer wünscht sich solchen Leidensdruck? Und doch lehrt uns jede historische Erfahrung, dass gerechte Wirtschaftsordnungen stets nur über fatale Umwege erreicht wurden.
Die Frage, die wir uns heute stellen, lautet: Besteht Hoffnung, dass die Pandemie – bei allem Elend, das sie verursacht – möglicherweise der Hebel ist, das ökonomische Umdenken zu bewirken? Die wirtschaftswissenschaftliche Doktrin, die bis an die Schwelle des Corona-Zeitalters das politische Handeln der westlichen Welt beherrschte, ist jene des Neoliberalismus. Es ist die Lehre von Milton Friedman, der in den 60er- und 70er-Jahren an der Wirtschaftsschule der Universität von Chicago wirkte. In allem radikal auf den Markt zu setzen, war der Kernpunkt seiner Auffassungen (wobei dieser von den Grosskonzernen sehr schnell dahingehend umgedeutet wurde, dass zugunsten der «Systemrelevanten» die Marktmechanismen durchaus auch einmal ausgeschaltet werden dürfen…). Jedes Thema, womit sich Geld verdienen lässt, gehöre in die Hände der Privatindustrie – der radikale Abbau des Service publique war die Folge. Allen Ernstes wurde die «Trickle-down-Theorie» auf den Schild gehoben: Man müsse den grossen Wirtschaftsplayern so viel Reichtum geben, dass Wohlstand unvermeidlich nach unten durchtröpfeln werde.
Was wir seither gesehen haben, ist die Umverteilung von unten nach oben, eine Plutokratie, in der die wirtschaftlich Potentesten die Politik zu ihren Gunsten bestimmen. Wir sehen sinkende Reallöhne in den wenig begünstigten Kreisen der Gesellschaft, aber keinen Beleg für durchtröpfelnden Wohlstand… In der Politik griffen in den 80er-Jahren zuerst Ronald Reagan in den USA und Margreth Thatcher in Grossbritannien die Ideen von Friedman auf. In Kontinentaleuropa führten sie auf direktem Weg zu allen wirtschaftlich mächtigen Rechtspopulisten vor und nach der Jahrtausendwende, zu Figuren wie Berlusconi in Italien, Blocher in der Schweiz und schliesslich zu Trump in den USA. Und die Potentaten in den Scheindemokratien Osteuropas lernten rasend schnell, die Systeme der Selbstbereicherungen für sich zu adaptieren.
Aber jetzt passiert ausgerechnet in den USA Erstaunliches. Die Koinzidenz der Pandemie mit den Präsidentschaftswahlen im letzten Herbst hat nicht nur Joe Biden ans Ruder geführt, sondern hat ihm auch eine dringliche Pflichtschuld politischen Handelns auferlegt. Corona zeigte in vielerlei Hinsicht die inneren Zustände der USA schonungslos auf: untaugliche soziale Absicherung für breiteste Bevölkerungsschichten, keine flächendeckende Krankenversicherung, krasse Mängel im Bildungssystem, Infrastrukturdefizite noch und noch. Dazu kommt die Schubkraft der Black-Lives-Matter-Bewegung, da die farbigen Bevölkerungsteile grösstmehrheitlich zu den Unterprivilegierten gehören. Allerdings war ihm, dem 78-Jährigen, nicht viel zugetraut worden; vielmehr hatte ganz Europa sich gewundert, dass die Demokraten während vier Jahren Trump keinen valableren Kandidaten gefunden oder aufgebaut hatten.
Aber dieser leicht tattrig wirkende Mann des Ausgleichs und der Mitte legt jetzt ein Wirtschaftsprogramm vor, das uns geradezu ungläubig nach Amerika schauen lässt. Offensichtlich inspiriert von Franklin Roosevelts «New Deal» (eine Konjunkturankurbelung zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren) schickt er ein Budget von drei Billionen Dollar in den Kongress, womit der Staat direkt und massiv in den Markt eingreifen soll. Nachdem seine Regierung vom Parlament bereits zwei Billionen Direkthilfe für Pandemiegeschädigte gesprochen hat, ist Biden also Willens, weitere 3000 Milliarden Dollar auszugeben für Steuererleichterungen für Familien, für Kitas, für eine Aufrüstung der informatischen Infrastruktur, für die Beförderung der E-Mobilität oder für wirtschaftliche Umstrukturierungen im sog. «Rostgürtel», von wo Hunderttausende von Arbeitsplätzen nach China abgewandert sind. Dort sollen jetzt Mikroprozessoren hergestellt werden, die bis anhin aus Fernost importiert wurden. Und all dies wird theoretisch untermauert von einem Team von Wirtschaftsberatern, die den unter Reagan eingeschlagenen neoliberalen Weg explizit als historischen Fehler bezeichnen.
Und wie soll das alles finanziert werden? Biden sieht neue Steuererlasse vor, die die von Trump zugunsten der Unternehmungen und der finanzstärksten Privaten realisierten Steuergesetze weitgehend rückgängig machen würden. Unternehmenssteuern sollen von 21% wieder auf 28% steigen (während sich in der Schweiz die Kantone gegenseitig unterbieten, indem der Trend aktuell Richtung 13% geht…). Jahreseinkommen ab 400'000 Dollar sollen mit einem Spitzensteuersatz von bis 40% belegt werden. Ganz keynesianisch soll die Wirtschaft durch staatliche Investitionen und eine Verstärkung der Kaufkraft der mittleren und unteren Schichten angekurbelt werden. So lässt sich die Umverteilung von unten nach oben stoppen oder bremsen. Es wäre ein Ansatz mit dem Ziel, an einer starken Wirtschaft alle teilhaben zu lassen.
Traditionell waren wir in den letzten 50 Jahren bei allem, was in Sachen Wirtschaftstrends aus den USA zu uns kam, die gegenteilige Richtung gewohnt. Und allzu willfährig sind die wirtschaftsliberalen Strategen Europas den amerikanischen Vorbildern gefolgt, oft genug blind und unbesehen. Wie wird es diesmal sein? Der Strahlkraft Amerikas hat sich Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie entzogen. Es bleibt zu hoffen, dass die Gefolgschaft jetzt nicht aufgekündigt wird, wo es für einmal in die richtige Richtung geht.
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