Die Gedanken sind frei
- Reinhard Straumann

- 10. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Okt.
Schönes altes Volkslied! Seine Entstehung wird auf die letzten Jahrzehnte vor 1800 datiert, die Melodie kam zwischen 1810 und 1820 hinzu sowie eine Überarbeitung des Textes durch Hoffmann von Fallersleben: «Die Gedanken sind frei… Sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten. Sperrt man mich gleich ein, im finsteren Kerker, so sind das doch nur Vergebliche Werke. Denn meine Gedanken Zerreissen die Schranken. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei.»
So romantisch diese Verse klingen: Treffen sie zu? Ist es nicht vielmehr so, dass die wahrhaft freien Gedanken solche sind, die man teilen darf, mindestens im kleinen Kreis? Konspirative Zirkel, in denen das möglich war, hat es zu jeder Zeit gegeben; auch wenn sie oft genug mit Lebensgefahr für diejenigen verbunden waren, die das Risiko auf sich nahmen. Erinnern wir uns nur an die «Weisse Rose» und andere Widerstandsnester zu nationalsozialistischer Zeit. Wozu sind die besten Gedanken von Nutzen, wenn sie die eigene Denkkammer nicht verlassen dürfen? Gedanken sind dann wirklich frei, wenn wir sie teilen können. Die liberalen Gesellschaften, die mit dem Totalitarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgeräumt haben, gewährten uns die Freiheit der Gedanken, die wir auch äussern durften. Schön war die Zeit.
Denn heute bleibet es leider nicht mehr dabei. Am kommenden Dienstag, 14. Oktober, wird das Europäische Parlament unter der Fuchtel ihrer EU-Präsidentin Ursula von der Leyen ein Gesetz durchboxen, das alle Anbieter von Messengerdiensten von Facebook bis WhatsApp zwingen wird, sämtliche Textbotschaften mitzulesen, die in Europa gepostet werden, und verdächtige Inhalte (was imme r solche sind…) den europäischen und den nationalstaatlichen Behörden Europas zur Verfügung zu stellen. Die Freiheit der Gedanken wird abgeschafft, der technische Fortschritt und die illiberalen Tendenzen in der westlichen Politik, von den Rechten in den USA bis hin zu den Linken Europas, machen es möglich. Und alles zum Schutz der Demokratie. Geht es noch absurder?
Ursula von der Leyen arbeitet seit Jahren an der Zensur. Ausgehend von einem richtigen und notwendigen Grundgedanken – nämlich dass das Internet nicht zu einem rechtsfreien Raum verkommen darf –, wird die europäische Rechtslandschaft Schritt für Schritt dahingehend verändert, dass elektronisch verbreitete Inhalte, die den herrschenden Parteien und Personen missliebig sind, unter Verfolgung und Strafe gestellt werden. In Deutschland führte der neu beschlossene Paragraf 188 des Strafgesetzbuches («Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität») zu solchen Absurditäten, dass bis anhin unbescholtene Bürger, die aus dem Kosmetikproduktehersteller Schwarzkopf satirisch einen «Schwachkopf» machten und mit entsprechendem Schriftzug ein Porträt von Robert Habeck untertitelten, morgens um fünf Uhr Besuch von der Polizei mit Hausdurchsuchungsbeschluss erhielten und zusehen mussten, wie ihr PC abtransportiert wurde. Die «Grünen» Habeck und Baerbock und das «liberale» (!) Flintenweib Strack-Zimmermann haben sich mit solchen Verfolgungsaktionen besonders eifrig hervorgetan: über 800 Strafbefehle wurden in den letzten Monaten der Ampelregierung erlassen. Dass der Rechtsstaat unter solcher Flut erstickt wurde, war Teil des Planes. Die Tendenz ist klar: Unter dem Vorwand des Staatsschutzes sollte die politische Opposition eingeschüchtert und mundtot gemacht werden.
In der EU soll jetzt im Laufe der kommenden Woche eine nächste Hürde genommen werden. Nach dem „Gesetz über digitale Dienste“ vom 16. November 2022, das Haftungs- und Sicherheitsvorschriften für digitale Plattformen im Bereich der EU in Kraft setzte, kommt jetzt das „Gesetz über die Chatkontrolle“. Und von Verordnung zu Verordnung, von Gesetz zu Gesetz wird undurchsichtiger, wo der grundsätzlich zu befürwortende Rahmen aufhört und wo der Missbrauch der neuen Rechtsgrundlagen zu Zwecken der Mundtotmachung politisch Oppositioneller anfängt. Nach zahlreichen, kaum nachvollziehbaren Gerichtsentscheiden in der Bundesrepublik jedenfalls ist unser Vertrauen in solche „rechtsstaatliche“ Institute auf dem Nullpunkt angelangt. Die Meinungsdiktatur in der Europäischen Union galoppiert voran.
Der hier geäusserte Verdacht scheint umso berechtigter, als der Graben zwischen dem Empfinden der Bürgerinnen und Bürger und dem Handeln der Politiker immer tiefer aufgerissen wird. Die Machthaber spüren, dass ihre Phalanx bröckelt. Von der Leyen muss sich einem Misstrauensantrag nach dem anderen stellen. Aus der europäischen Front der Kriegstreiber (in Sachen Ukraine) werden immer grössere Stücke herausgerissen. Überall, wo gewählt wird (und wo wir den Wahlergebnissen Vertrauen schenken dürfen), müssen ratlose Regierungen zuschauen, wie ihnen der Boden der Legitimation abhandenkommt. Frankreich taumelt von einer Regierungskrise zur nächsten. In Belgien und in Österreich zerbröseln die Volkswirtschaften und in Tschechien gewinnt bei der Parlamentswahl die Partei des Kriegsgegners Babis haushoch, der sich in die Reihe der erklärten, osteuropäischen Gegner des Ukrainekrieges stellt (Ungarn, Slowakei, Tschechien, teilweise auch Polen). In Dänemark (und überall…) entpuppen sich die vermeintlichen, in den Mainstreammedien bereits als Tatsache dargestellten Drohnenüberflüge als Schimären, als plumpe Kriegstreibereien gegen Russland.
Was lesen wir von all dem in den Texten des Mainstreams? So gut wie nichts. Vielmehr haben die neuesten Rechtsentwicklungen das Ziel, auch die in den Social Media geäusserten Meinungen auf den offiziellen Kurs zu zwingen. Die Chatkontrolle der EU soll dazu ein Meilenstein sein. Geht sie durch, dann ist die Europäische Union als liberales Projekt gestorben und mit ihr der Schutz der Privatsphäre in Europa.
Ja, die Gedanken waren einmal frei in Europa. Heute sind sie es nur noch, wenn wir sie für uns behalten.
Nachtrag vom 11.10.: Die EU hat gestern Abend beschlossen, die Abstimmung von 14.10.2025 über die Chatkontrolle zu verschieben. Der Widerstand ist offenbar so gross geworden, dass Zweifel am Erfolg aufgekommen sind.


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