Wie immer man es macht – falsch ist es allemal. Ewig hat man dem Bundesrat (nicht nur in den Fragen von Neutralität und Freigabe für Waffen-Weiterverkauf) Unentschlossenheit und Zögerlichkeit vorgeworfen, und jetzt, wo der Bundespräsident ganz unschweizerisch Flagge zeigt, ist es natürlich auch nicht recht. Denn die Flagge, die Alain Berset als sichtbares Zeichen reckte, war offenbar die falsche. In einem Interview, das er der «NZZ am Sonntag» gewährte, brauchte der alte Politfuchs ein Unwort. Er sagte, das ganze bürgerliche Politspektrum – inklusive seiner eigenen Sozialdemokraten – sei in einem «Kriegsrausch» gefangen.
Oje. In Anlehnung an Kurt Tucholski müsste man schreiben: Die ganze Schweiz und halb Europa sass auf dem Sofa und nahm übel. Aus allen politischen Lagern ergoss sich heiliger Zorn über den Magistraten. Vor allem in dessen eigener Partei, der SP, war Heulen und Zähneklappern, aber auch rätselratendes Unverständnis angesagt. Wie hatte er nur die Genossen dermassen in die Bredouille stürzen können, noch dazu in einem Wahljahr? Wie soll man jetzt der Parteibasis vermitteln, dass das Präsidium Hüst sagt, der Bundesrat aber Hott?
Aber auch die andern Bundesratsparteien fühlen sich desavouiert. Die kriegspragmatische Umdeutung der Neutralität, um die die FDP sich seit Wochen bemüht: zerzaust im Sturm einer weiteren Eskapade Bersets. Und auch die Mitte, die sich eben anschickte, sich hinter der Gallionsfigur ihrer Verteidigungsministerin zu versammeln, fühlte sich im Regen stehen gelassen. Die Avancen, die Frau Amherd noch wenige Tage zuvor dem Ausland gemacht hatte (die Schweiz könnte vielleicht doch noch ihre Waffen-Weiterverkaufsverbot aufweichen): schnöde abserviert. Berna locuta, causa finita: Bern hat gesprochen, die Sache ist erledigt. Parteipräsident Pfister flüchtet sich ins ödeste aller möglichen Argumente, indem er Berset unterstellt, sich mit seiner Äusserung «klar auf der Seite Russlands zu positionieren». Wer sich getraue, die westliche Kriegslogik zu hinterfragen, stehe auf der Seite Putins… Intellektuell noch anspruchsloser geht nicht.
Und auch das Ausland wundert sich. Von der «Financial Times» über die «New York Times» bis hin zum «Parisien» überschlagen sich die Kommentare. Dementsprechend ist man innerhalb der Schweiz jetzt bemüht, die Scherben aufzukehren. Die NZZ versucht es mit dem Titel: «Vom Sonderfall zum Sonderling», womit nicht Berset als Person gemeint ist, sondern die Schweiz als politisches Subjekt. Diese könne als Folge der Entgleisung ihres Bundespräsidenten nicht mehr ernst genommen werden – eine schlimmere politische Rechenschaft für die oberste Magistratsperson ist kaum denkbar. Das Zürcher Weltblatt versucht, den «grossen Schaden» abzuwenden, indem es Berset als Persönlichkeit desavouiert. Erinnerungen werden wach an die Zeit des Ersten Weltkriegs, als der Bundesrat darüber nachdachte, den militärischen Oberbefehlshaber, General Wille, aufgrund seiner fortgeschrittenen Demenz zu entmündigen.
Hat Bundespräsident Alain Berset tatsächlich nicht mehr alle Tassen im Schrank, wie man landauf landab mutmasst? Oder verfolgt er einen geheimnisvollen Plan, wie einige Genossinnen und Genossen spekulieren, die sich sein Verhalten anders nicht erklären können und zu seiner Ehrenrettung ein mögliches Mysterium in den Raum stellen?
Die Antwort ist: weder noch. Alain Berset, zermürbt durch die unzähligen Angriffe auf seine Person während des letzten Jahres, hat sich die Freiheit genommen, zu sagen, was er denkt. Nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert… hat er sich so geäussert, wie sehr viele Bürgerinnen und Bürger denken, wie es aber die veröffentlichte Meinung nicht wahrhaben will. Und er hat sich vom Umstand verleiten lassen, dass er in der Vorwoche exakt die gleiche Äusserung im Gespräch mit der westschweizerischen «Liberté» gemacht hat, und die Reaktionen waren… null. Eine Naivität zu glauben, derlei gehe auch im deutschen Sprachraum ungestraft durch.
Ist Bersets Äusserung deshalb aber weniger wahr, weil sie jetzt, auf Deutsch, in einem transatlantisch beherrschten Umfeld rezipiert wird? Tatsache ist, dass sich das bürgerliche und das linksliberale, von Deutschland und den USA meinungsdominierte Europa, benebelt durch die tägliche Berichterstattung mit proamerikanischer Wertung, einer Logik hingegeben hat, die man mit Fug und Recht als Kriegsrausch bezeichnen kann. Alles, was einmal gegolten hat (was damals auf die Formel «Wandel durch Handel» verkürzt worden war), soll plötzlich nicht mehr wahr sein? Die Koexistenz der Grossmächte, die Tri- oder Multipolarität der Welt in einem ausgeglichenen Kräfteverhältnis, die einzige Garantie für Frieden, soll plötzlich falsch sein? Die verzweifelten Zuckungen absteigender Supermächte (Russland und USA) sollen das neue Glaubensbekenntnis sein?
Natürlich wird man entgegenhalten, auf russischer Seite sei gar keine Bereitschaft zu verhandeln vorhanden. Das ist richtig unter der Voraussetzung, dass der Westen die Forderung stellt, Putin müsse die ganze Ukraine von russischen Truppen räumen, inklusive Krim und Donbass. Diese Forderung aber ist etwa so realistisch, wie wenn man von den USA verlangen würde, Guantanamo auf Kuba zu räumen. Sie würde eine politische Situation negieren, die acht Jahre lang, von 2014 bis 2022, Bestand hatte und nie ein Kriegsgrund war. Sie jetzt zu erheben, ist keine Basis für Verhandlungen, sondern ein Vorwand, aus westlichem Interesse den Krieg zu verlängern, zum Besten der amerikanischen Waffenindustrie am liebsten ad infinitum. Diese Logik nicht zu hinterfragen, ist der Kriegsrausch, von dem Berset sprach. Zum Glück war er einen Moment lang unbedacht genug, es laut auszusprechen.
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