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AutorenbildReinhard Straumann

Kein Sturm im Wasserglas

Aufregung im Netz herrscht dieser Tage: Ein Kettenbrief macht die Runde, des Inhalts, der Nach-richtendienst WhatsApp habe in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag der laufenden Woche seine Nutzungsdaten geändert. Seither würden angepasste Gruppeneinstellungen gelten, nämlich so, dass jeder Nutzer und jede Nutzerin von jedem Nutzer und jeder Nutzerin zu jeder Gruppe hinzugefügt werden könne. Zunächst heisst das für den durchschnittskundigen Netzkonsumenten: Nicht verstanden, ich mache weiter wie bisher. Fasst man jedoch Mut, steigt in die Materie ein und klickt sich durch die einschlägigen Artikel, so lernt man schnell, dass WhatsApp bei den Einstellungen unter «Account» und «Datenschutz» eine Menuposition «Gruppen» eingerichtet hat, die verschiedene Optionen anbietet, wer das Recht haben soll, mich selbst zu einer x-beliebigen Gruppe hinzuzufügen. Diese Optionen lauten: «Jeder», «meine Kontakte», «meine Kontakte ausser…». Dazu teilte der Kettenbrief also mit, seit Mitte der Woche würden sämtliche Nutzer unter den genannten Optionen auf «Jeder» gesetzt. Damit sei der Zugriff auf meine persönlichen Daten unbeschränkt möglich und mein Account sei dem unbegrenzten Spam ausgesetzt. Wer sich dagegen wehren wolle, könne das auf dem genannten Pfad tun und sich selbst auf «meine Kontakte» setzen.

WhatsApp reagierte postwendend: Wie ungefähr immer bei einem Kettenbrief sei alles erfunden. Ein Sturm im Wasserglas. Zur Beruhigung teilte man mit, die Setzung der Position «Jeder» im vorliegenden Zusammenhang sei seit Jahren Standard… (was mich daran beruhigen soll, bleibt das Geheimnis von WhatsApp). Aber so ganz en passant vernimmt der interessierte Leser, der sich über eine bestimmte Frage kundig machen wollte, spannende Informationen über Dinge, die anfänglich noch gar nicht in seinem Blickfeld lagen: Dass nämlich WhatsApp bereits im Februar tatsächlich seine Nutzungs-bedingungen anpassen wollte, und zwar dergestalt, dass künftig der Mutterkonzern Facebook auf die Stammdaten der WhatsApp-Nutzer zugreifen könne (allerdings an das Einverständnis jedes einzelnen Nutzers gebunden). Diese Neuerung sei dann auf Mitte Mai verschoben worden.

Nun ist der liebliche Mai mittlerweile schon zu zwei Dritteln ins Land gegangen, und ich erinnere mich nicht, je von WhatsApp gefragt worden zu sein, ob ich die Erlaubnis erteile, dass WhatsApp meine Daten mit Facebook teilen dürfe. Oder war das vielleicht einer der ungezählten Klicks, die wir täglich ausführen, ohne uns bewusst zu werden, zu was wir gerade unser Einverständnis erteilt haben? Jedenfalls steht fest, dass ich als WhatsApp-Nutzer jetzt den Datenstamm von Facebook alimentiere, obwohl ich gar keinen Facebook-Account habe. Und das heisst nichts anderes als: Facebook weiss alles über mich.

WhatsApp, seit 2014 Tochter von Facebook, hat im vergangenen Jahr die Zwei-Milliarden-Grenze von monatlich aktiven Nutzern geknackt. Facebook hat sich die Übernahme 20 Milliarden Dollar kosten lassen – für den Kauf einer Firma notabene, die notorisch Verluste einfährt. Weshalb? Es ist ganz einfach: Der Wert von WhatsApp sind die Daten seiner Nutzer. Es sind Daten von zwei Milliarden Menschen. Jeder vierte Erdenbewohner hat damit quasi eine Fiche bei Facebook, in der alles vermerkt wird, was durch seine Internetnutzung abgegriffen werden kann.

Ein Beispiel zur Illustration: Vor ein paar Jahren beschwerte sich, irgendwo im mittleren Westen der USA, der Vater einer 17jährigen Tochter, dass diese andauernd und unaufgefordert Werbung von allen möglichen Anbietern von Produkten erhalte, die ausschliesslich für Schwangere und junge Mütter von Interesse sind. Der Vater wusste es noch nicht, aber das Internet wusste es längst – seine 17jährige Tochter war schwanger. Ihre Klicks im Internet hatten sie identifiziert.

«Microtargetting» heisst das. Es ist eine Methode, die sich längst in der Politik etabliert hat, denn nicht nur Schwangerschaften lassen sich damit diagnostizieren, sondern auch politische Befindlichkeiten, die sich in jedem Wahlkampf ausnutzen lassen. Barack Obama hat so seine zweite Wahl gewonnen, Nigel Farage, der Investmentbanker, politische Populist und geistige Vater des Brexit, hat Grossbritannien aus der EU herausgeführt, und sein Spezi Donald Trump hat ebenfalls eine Wahl gewonnen (umso erstaunlicher – Corona sei Dank! –, dass er sie beim zweiten Versuch dann verloren hat). Sie alle haben Facebook für die Zur-Verfügung-Stellung der Daten von potentiellen Wählerinnen und Wählern und für deren Aufbereitung durch Firmen wie Cambridge Analytica bezahlt, und zwar nicht zu knapp: Donald Trump überwies im Wahlkampf 2016 monatlich 70 Millionen Dollar an Facebook – und generierte dank Facebook Spendengelder in der Höhe von 275 Millionen Dollar.

Wer je die Frage gestellt hat, weshalb die Dienste von Facebook, WhatsApp und Konsorten «gratis» seien, findet hier die Antwort: die Dienste sind weit davon entfernt, gratis zu sein. Sie sind sogar teuer. Bloss sind wir, die Nutzer, nicht die Kunden. Wir sind das Produkt; mit uns wird Handel getrieben, werden Kaufanreize erzeugt, wird Politik gemacht. Wir sind bares Geld in den Händen von Facebook. Der Silicon-Valley-Gigant hat WhatsApp gekauft, damit die Stammdaten der Nutzer nicht in die Hände der Konkurrenz fallen: an Amazon, Apple, Google, Microsoft.

Insofern ist die Fehlermeldung, welcher der Kettenbrief aufsass, mitnichten ein Sturm im Wasserglas. Sie ist Ausdruck davon, dass wir permanent auf der Hut sein müssen.

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