Als ich die Grundbegriffe der Wirtschaft erlernte (Maturität 1973 im Typus Wirtschaft), war die Welt noch einfach gestrickt. Zwei Systeme standen einander gegenüber, der Kapitalismus und der Kommunismus; hüben herrschte die Markt- und drüben die Planwirtschaft. Inzwischen haben sich die Dinge verwickelt und die Kategorien verschoben. Aber offenbar haben das trotzdem noch nicht alle bemerkt. In allen Krisen-Talkshows, die seit dem Fiasko der Crédit Suisse unablässig über die Bildschirme gehen, werden von den besonders wirtschaftsfreundlichen Gesprächsteilnehmern – von jenen der FDP – die Begriffe «Kapitalismus» und «Marktwirtschaft» weiterhin unbeirrt synonym verwendet.
Es ist geradezu rührend zu sehen, wie beharrlich in diesen Kreisen die Schimäre aufrecht erhalten wird, der moderne Kapitalismus habe auch nur das Geringste mit dem Markt zu tun. Mit dem Markt, auf dem Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen und wo von einer «unsichtbaren Hand» (wie weiland Adam Smith formulierte) alle Dinge zum Besten aller geregelt würden. Wo auch die Entschädigungen für geleistete Arbeit, die Gehälter, sich entsprechend der Qualität der investierten Leistung auf einem gerechten Niveau einpendeln würden. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre.
Gewiss, es gibt so etwas wie den «Markt»: für alle kleinen Anbieter von Produkten und Dienstleistungen, für die KMUs (sofern es sich nicht gerade um hochsubventierte Landwirtschaftsbetriebe handelt…), die sich redlich abstrampeln, um ihren Kunden gerecht zu werden. Aber: Quod licet Jovi, non licet bovi – was für die Götter gilt, gilt keinesfalls für den Ochsen. Die Kleinen sollen kämpfen – die Grossen, die internationalen Megakonzerne, schweben über solchen Niederungen. Für sie gelten andere Gesetze, nämlich jene, die sie der Politik diktieren. Für sie gilt «too big to fail». Wer es in den erlauchten Kreis der Systemrelevanten geschafft hat, ist fein raus. Er ist in einem Zirkel angekommen, wo sich die Verantwortlichen krümmen vor Lachen über uns steuerzahlende Idioten. Wo man den Gesetzen des Marktes spottet und der Mentalität der Selbstbedienung frönt.
Kein Bereich der Wirtschaft ist besser geeignet, diese Tragikomödie zu illustrieren, als jener der Finanzwirtschaft. Man vergegenwärtige sich die Boni-Exzesse der CS: Urs Rohner bewilligte sich 43 Millionen Franken in zehn Jahren. Thomas Gottstein brauchte zwei Jahre für zwölf Millionen. Tidjame Thiam nahm in fünf Jahren 62 Millionen. Bei Brady Dougan waren es 90 Millionen, aber dafür musste er auch acht Jahre arbeiten. Arbeiten?
Was war ihre Leistung, ausser dass sie den Karren in den Dreck gefahren haben und jetzt durch Abwesenheit glänzen, wo die Öffentlichkeit merkt, dass Verantwortung etwas mit Haftung zu tun hat? Und wo, bitteschön, haben diese Raubritter ihre Bezüge versteuert?
Der Sündenfall nahm seinen Lauf in den 1980er-Jahren. Bis dahin standen sogar auf globaler Ebene realwirtschaftliche Projekte und Ideen im Mittelpunkt jeder Wirtschaft: Wer sein Kapital vermehren wollte, musste es in Unternehmungen investieren, welche sich auf dem Markt durch das Angebot hergestellter Güter oder angebotener Dienstleistungen bewährten. Damals aber – und es ist kein Zufall, dass gleichzeitig die Wirtschaft von der Informatik, von den Grossrechnern und den aufkommenden PCs mehr und mehr in den Griff genommen wurde – bemerkte man im Rausch der einsetzenden Deregulierung, dass neuartige Investments in Finanzprodukte eine weitaus höhere Rendite versprachen. Die Realwirtschaft war out, die Börse war in wie nie zuvor. Jetzt ging der Run los auf die internationalen Aktienmärkte, den Handel mit Anleihen, mit Rohstoffen und mit künstlichen Konstrukten wie Derivaten, wo kleinste Preisveränderungen sich zu traumhaften Gewinnen nutzen liessen – die materiell aber nichts anderes waren als Luftblasen, die jederzeit platzen konnten. Bill Clinton unterschrieb 1994 ein neues Bankengesetz, das den Marktteilnehmern ungefähr gar keine Auflagen mehr machte und keine Sicherheiten mehr einforderte.
Nach dem amerikanischen Bankenkollaps 2008 führte Barack Obama wieder verbindlichere Regeln ein, die 2017 Donald Trump erneut kassierte… seither ist wieder alles erlaubt. Seit der ersten Deregulierungswelle in den 80er-Jahren wird die Weltwirtschaft in regelmässigen Abständen von den Verwerfungen durchgeschüttelt, die die internationale Finanzwirtschaft auslöst. Unternimmt irgendjemand etwas dagegen? Die amerikanische Börsenaufsicht, die amerikanische Notenbank, die G-7 oder die G-20? Offenbar ist die Politik der westlichen Welt am Punkt angelangt, wo sie Finanzkrisen wie Naturkatastrophen hinnimmt. Aber man steht ein für milliardenschwere Rettungsaktionen, wenn der Schadenfall es erfordert. Und man bringt Mal für Mal das Bedauern für die Kleinanleger zum Ausdruck und für Abertausende von Menschen, die in Arbeitslosigkeit und Not geschickt werden. Das ist Kapitalismus. Er hat mit Marktwirtschaft rein gar nichts zu tun.
2010 hat die SP Schweiz ihr Parteiprogramm neu aufgesetzt. Darin steht: «Die SP Schweiz ist eine Partei, die den Kapitalismus nicht als Ende und schon gar nicht als Vollendung der Geschichte akzeptieren will. Sie hat die Vision einer Wirtschaftsordnung vor Augen, die über den Kapitalismus hinausgeht und diesen durch die Demokratisierung der Wirtschaft letztlich überwindet. Heute führt der globalisierte Kapitalismus zu einer Regulierung der Politik durch die Wirtschaft, statt dass die demokratische Politik die Wirtschaft regulieren würde.»
Hohn und Spott der übrigen Parteien waren die Reaktionen auf das Ziel der SP, den Kapitalismus zu überwinden. Hätten sie damals schon begriffen, dass Kapitalismus und (eine anständig regulierte) Marktwirtschaft zwei total verschiedene Dinge sind, dann hätten sie klüger reagieren und Katastrophen verhindern können.
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