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Irren ist menschlich

An einer seiner finalen Wahlkampfveranstaltungen, anlässlich des Parteitages der CSU in Nürnberg vom 11. September, sah sich Armin Laschet, Vorsitzender der grossen Schwesterpartei CDU, verlockt, Franz Josef Strauss zu zitieren. Natürlich war Laschets Auftritt bei der Partei seines vormaligen Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur, Markus Söder, ein einziges Bemühen, den Bayern Honig um den Mund zu schmieren. Faustdick, schamlos, bis hin zur Peinlichkeit, aber im sicheren Bewusstsein: Strauss zieht immer. Das Zitat lautete: „Irren ist menschlich, aber sich immer Irren ist sozialdemokratisch.“

Vom bayrischen Polterer war man solches gewöhnt. Aber Laschet, die sanfte rheinische Frohnatur? Hat er je einen dümmeren Satz zum Besten gegeben? Normalerweise wäre man versucht anzunehmen: Hier artikuliert sich der Zynismus der Macht. Aber so sind die Verhältnisse nicht. Laschet war mit grossem Vorsprung in den Wahlkampf gestartet, aber seither schreitet er zielsicher von Fettnapf zu Fettnapf und verspielt Prozentpunkt um Prozentpunkt in allen Umfragen. Jetzt geht er mit wohl unaufholbarem Rückstand ins Wahlwochenende und gibt sich deshalb forsch. Aus seinem Mund ist der Klamauk des Strauss-Zitates aber keine Kampfansage, sondern gemahnt eher an Klein-Armin, der sich allein im dunkeln Wald fürchtet und deshalb laut pfeift, um seine Angst nicht zu spüren. Laschet ergänzte das Zitat mit der Erläuterung: „In allen Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte standen die Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite.“

Ah ja? Wo stünde Deutschland, wo die Schweiz, wo Europa heute, bei auslaufender Corona-Krise, ohne die Sozialdemokraten aller Länder? Wer hat unablässig darum gekämpft, dass nicht nur die Grossen schadlos gehalten wurden, sondern dass die Parlamente manchmal auch an die Kleinen gedacht haben? Krisenbekämpfung nach bürgerlichem Muster ging stets dahin, diejenigen zu retten, die man als „to big to fail“ qualifizierte. Also die Grosskonzerne und die Grossbanken (womit die Boni von deren CEOs und die Dividenden der Shareholder gesichert waren). Der Staat, den diese meist ins Pfefferland wünschen, wird jederzeit gerne in Anspruch genommen, wenn die Felle davon zu schwimmen drohen, Marktwirtschaft hin oder her. Die Parteien der Wirtschaftsfreunde begünstigen stets diejenigen, die eh aus der Pole-Position ins Rennen gehen, die Superprivilegierten aller Länder. Erklärtes Ziel ist die Fortsetzung einer Umverteilung, die seit der neoliberalen Machtübernahme der 1980er-Jahre nur eine Richtung kennt: von unten nach oben. Immer nach dem Motto: Wenn sich der Reichtum der Wohlhabendsten vermehrt, dann wird schon etwas durchträufeln, wovon auch die anderen profitieren.

Kein Wunder, verabreicht Armin Laschet dem Fussvolk der CSU seine Streicheleinheiten in Form von Strauss’schen Schenkelklopfersprüchen, die jedes bessere Wissen übertünchen. Aber an diesem Wochenende, wo in der Schweiz die 99-Prozent-Initiative zur Abstimmung kommt, ist es durchaus angebracht, wieder einmal an die Rolle der Linken bezüglich unseres Wohlstandes und seiner Verteilung zu erinnern. Stand die schweizerische Sozialdemokratie auf der falschen Seite, als sie 1918 die AHV forderte und sie 25 später endlich ins Ziel brachte? Und der Rechtsstaat! War die SPD falsch beraten, als sie 1933 geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers stimmte?

Das Abstimmungswochenende in der Schweiz und das Wahlwochenende in Deutschland ist der geeignete Moment, die Herren Laschet und Konsorten daran zu erinnern, dass die Gesellschaft nicht nur aus CEOs und Shareholdern besteht, sondern aus einer Mehrheit (es müssen nicht grad 99 Prozent sein…), die arbeitet, ihren Lohnausweis einreicht und Steuern bezahlt. Und zwar zu Ansätzen, die jene mit Scham erfüllen müssten, deren Kapital sich ganz ohne ihr Dazutun vermehrt. Diese Menschen sind die Enkel und Urenkel jener Generationen, die im Schweiss ihres Angesichts die Kapitalakkumulation erst ermöglicht haben, deren Erträge jetzt von kleinsten Minderheiten in grössten Beträgen abgeschöpft werden.

In Deutschland wurde vor wenigen Tage die Grundsicherung von Hartz IV für das Jahr 2022 von 446 auf 449 erhöht. (Noch einmal, damit das nicht überlesen wird: Die Erhöhung beträgt 3 Euro pro Monat. Kein Witz!) Dabei kündigt sich gerade dieser Tage an, dass die Gas- und Ölpreise im kommenden Winter Rekordhöhen erreichen werden. 3 Euro mehr bei 446 Euro Rente sind ein Hohn. Warum sind es immer die Reichen, die bestimmen, mit wie wenig ein Bedürftiger auskommen können sollte? Welcher Parlamentarier hat je versucht, mit 450 Euro einen Monat lang zu überleben?

Längst haben auch Menschen aus privilegierten Kreisen eingesehen, dass die wachsende Ungleichheit und das Absinken des Mittelstandes mehr und mehr zu einem gesellschaftlichen Problem werden, und zwar nicht nur moralisch, sondern auch ökonomisch. Es geht um Kaufkraft, um die Finanzierung der Klimakrise, um soziale Identität, um den Bestand der Demokratie. All das ist nicht zu machen, wenn die gesellschaftliche Schere sich noch weiter öffnet. Darüber gibt es keine zwei Meinungen. Den meisten Politikern ist das bewusst, von der schweizerischen FDP bis hin zu Herrn Laschet. Entsprechende Lippenbekenntnisse gibt es gratis aus allen Teilen des bürgerlichen Lagers, von Hinz bis Kunz. Aber wenn es darauf ankommt, wenn Wahlen und Abstimmungen bevorstehen, gilt plötzlich alle Einsicht nicht mehr. Dann zählt nur noch der niedere Instinkt des Raffens, mit welchem offenbar die eigene Wählerschaft bedient werden will. Es gereicht denjenigen Bürgerlichen nicht zur Ehre, die in den Linken stets nur den Feind im Klassenkampf erkannt haben, weder materiell noch intellektuell. Irren ist menschlich, aber Nachdenken wäre grundsätzlich erlaubt.

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