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AutorenbildReinhard Straumann

Im Sinn der russischen Kultur

Öffentlicher Anlass im Literaturhaus Basel: Zwei im Exil lebende russische Intellektuelle, der Schriftsteller Michail Schischkin und der Musikwissenschaftler Artem Troitsky, sprechen über ihre Heimat. Der eine, Schischkin, hat sich im Westen einen Namen gemacht, den anderen Troitsky, kennt hierzulande keiner. Schischkin hatte sich seinen Gesprächspartner aussuchen dürfen. Er wählte mit Troitsky einen Jugendfreund, der mit ihm jede Meinung über Russland, den Krieg und Putin teilt. Widerspruch, die Seele jeder Debatte, fand nicht statt.

Das heisst nicht, dass die Veranstaltung langweilig gewesen wäre, im Gegenteil. Das Leiden der beiden Heimatvertriebenen schuf eine Betroffenheit, die sich ins Publikum übertrug. An ihren Einsichten ins Innenleben des Putin-Staats und der russischen Kultur gab es keinen Zweifel, an ihrer Kompetenz, öffentlich darüber zu sprechen, ebenso wenig. Viel Wahres wurde gesagt: Putin ist ein Faschist. Der innere Terror in Russland ist heute schlimmer als in der Sowjetunion der 60er- und 70er-Jahre. Russland hatte keine Nürnberger Prozesse; der Stalinismus ist nicht aufgearbeitet, ergo war es nur eine Frage der Zeit, bis wieder eine vergleichbare Gewaltherrschaft anbrechen würde.

Manches schärfte die Sinne des Zuhörers, weil es mit so viel Betroffenheit vorgetragen wurde: Russland begeht rituellen Selbstmord. Das gegenwärtige Regime hat Russisch zur Sprache der Mörder gemacht, das Russische ist entwürdigt. Und vor allem: Es gibt zwei Russland, ein inneres und ein äusseres. Das innere ist der Staat Putins mit allem, was dazugehört, von den Bodenschätzen bis zur Geheimpolizei; es ist das Russland der Oligarchen, des Militärs, der Mörder. Die russische Kultur hat in diesem Russland keinen Raum. Deren Träger wurden ins Exil gedrängt; sie bilden dort das äussere Russland.

Das Leiden der beiden Intellektuellen an der russischen Spaltung beherrscht den Saal. Es lud ein zur Solidarisierung: Zur Empörung gegenüber der heuchlerischen Neutralität der Schweiz, zum Schrei nach Unterstützung, zur Forderung nach Waffen, Waffen und noch mehr Waffen (für die Ukraine). Es provoziert den Applaus auch dort, wo die Aussagen unsinnig waren: Eine kollektive Geisteskrankheit habe die Russen befallen. Russische Männer haben eh keinen lohnenden Lebensinhalt, deshalb lassen sie sich für Putin töten. Ein Wunsch beseelt die beiden Sprechenden: Putin, der Satan, muss weg, koste es, was es wolle. Wie Churchill halten sie zwei Finger in die Luft: Victory für die Ukraine.

Keiner im Saal, der diesen Wunsch nicht teilen würde. Wir alle wünschen uns den Kriegsverbrecher Putin weg von den Hebeln der Macht (einmal abgesehen von der Ungewissheit, ob dann nicht ein noch aggressiverer Gewaltverbrecher übernehmen würde).

Aber dennoch beschleicht denjenigen ein ungutes Gefühl, der sich die Fähigkeit bewahrt hat, auch eine Propaganda, die die eigene Meinung teilt, als Propaganda zu erkennen. Wie sinnvoll ist es, die Fortsetzung des Krieges mit immer mehr und noch mehr Waffen zu fordern, damit das innere Russland wieder mit dem äusseren zur Deckung kommt? Wie legitim ist diese Forderung, wenn sie den Tod von Zehntausenden von Ukrainern und Ukrainerinnen einschliesst? Und von Zehntausenden von jungen Russen, bei denen es sich (um das in Erinnerung zu rufen…) ebenso um Menschen handelt? Junge Kerle hüben wie drüben, die nicht darauf gewartet haben, ob ihnen zwei russische Intellektuelle einen Lebenssinn zugestehen oder nicht? Und was rechtfertigt es, ein ganzes Land in Schutt und Asche zu legen?

Nicht jeder Zweck heiligt jedes Mittel. Obwohl die westlichen Leitmedien diesen Gedanken scheuen wie der Teufel das Weihwasser, gilt es auch hier, die Verhältnismässigkeit abzuwägen. Was ist zu bedenken?

Erstens. Die russische Geschichte war stets eine Geschichte von Gewaltherrschern, von Iwan dem Schrecklichen bis Stalin. Würde sich daran etwas ändern, würde Putin weggebombt? Mitnichten. Was Russland braucht, ist Aufklärung. Oder mit anderen Worten: Russland kann sich nur von innen reformieren.

Zweitens. Die beiden in der Mittellage zwischen Ost und West befindlichen Nachbarstaaten Polen und Ukraine teilen seit Jahrhunderten das Schicksal, dass sie erscheinen und verschwinden können, je nach Machtkonstellation der Grossen. Die Polen haben ihre Lehre daraus gezogen: „Solang die Weichsel noch durch Warschau fliesst, ist Polen nicht verloren.“ Das heisst: Polen wird nie untergehen. Ebensowenig die Ukraine. Wer untergehen wird, ist Putin, früher oder später.

Drittens. Die USA, nach deren Gusto der Krieg mit Milliarden Dollars alimentiert wird, kümmert nichts weniger als die Identitätsprobleme der russischen Kultur und der russischen Intellektuellen. Es interessiert sie einen Dreck – was sie interessiert, sind ihre geopolitischen Interessen und die Hochkonjunktur ihrer Waffenindustrie. Es ist wie damals, als Madeleine Albright, eine frühere amerikanische Aussenministerin, auf die Frage antwortete, ob die Sanktionen und der Krieg im Irak den Tod von 500‘000 Kindern rechtfertigt hätten: „Wir meinen, dass es den Preis wert war.“

Wollen wir uns mit einer solchen Geisteshaltung gemein machen? So wünschbar es wäre, Putin von der Platte zu wischen: Nicht um jeden Preis. Putins Macht ist eine Frage der Zeit. Viel wichtiger wäre es, die Waffen schweigen zu lassen und das Blutvergiessen zu stoppen. Jetzt. Es wäre möglich, wenn der Westen von zwei Vorstellungen Abstand nähme. Erstens: die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Zweitens: erst zu verhandeln, wenn Putin auf die Krim verzichtet. Wer sich solche Kriegsziele auf die Fahne schreibt, hat nur die Absicht möglichst lange vom Krieg zu profitieren. Ist das wirklich im Sinn der russischen Kultur?

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