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Elitendemokratie

Es ist immer dasselbe, von Auschwitz bis Srebrenica: Findet irgendwo auf der Welt ein Völkermord statt, so schauen alle weg. Wenn der Genozid dann vollendet ist, geht ein kollektiver Aufschrei des schlechten Gewissens durch die Weltpresse: Wie konnte das nur passieren! Nicht schon wieder! Ach!

Derzeit ist es Bibi Netanyahus Mörderbande in Israel, die es auf die Spitze treibt. Nach dem Motto «Nur tote Palästinenser sind gute Palästinenser» wütet in einem konstitutionell demokratischen Staat ein faschistisches Regime, dem offenbar niemand etwas anhaben kann. Weder die täglichen Proteste von Zehntausenden in Tel Aviv noch aussenpolitischer Druck können dem Willen dieser Bande etwas anhaben, das Volk der Palästinenser zu vernichten. Selbst den USA ist der Zugriff auf ihren Ableger in Nahost abhanden gekommen. Appelle, die Zivilbevölkerung zu schonen, verhallen ungerührt. Mindestens 32'000 Menschenleben hat das Massaker bereits gekostet, ganz abgesehen von der Zerstörung jeglicher Infrastruktur, von Wohnraum über Spitäler und Schulen bis zur Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser… die Regierung Israels interessiert nichts weniger. Sie interessiert die Verfügungsgewalt über einen Landstreifen, von welchem religiöse Fanatiker behaupten, er gehöre ihm, dem auserwählten Volk.

Die jüngste Schandtat ist die Ermordung von sieben jungen Menschen des Hilfswerks World Central Kitchen, die mit Nahrungsmitteln für die hungernde Bevölkerung unterwegs waren. Gezielte, ungezielte oder irrtümliche Tötungen – einerlei, alles ist erlaubt. Das Völkerrecht wird mit Füssen getreten, die in israelischen Militärstiefeln marschieren. Der stereotype Vorwand lautet wie stets: Wir haben Terroristen hinter diesen Zielen vermutet. Falls Unschuldige ums Leben gekommen sind, tut uns das leid. Unsere Gedanken sind bei den Familien der Opfer.

Keine politische Rhetorik ist verlogener als diese. Einst verfassungskonform als Koalitionsregierung installiert, ist Israels Regierungsmannschaft, die nebst dem kriminellen Ministerpräsidenten Netanyahu Faschisten wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich einschliesst, nichts gleichgültiger als die Verfassung und die Menschenrechte. Sie legitimieren ihr Vorgehen mit der Tatsache des vielfachen Völkermords an den Juden, vom Mittelalter bis in den Nationalsozialismus. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, jegliche politische Kritik als eine Form von Antisemitismus wegzuwischen. Seit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober postulieren sie ein Recht auf Selbstverteidigung, das sich jeglicher Methoden bedienen dürfe. Dazu zählen auch Provokationen wie die Attacke auf ein Konsulat des Irans in Syrien (von vorgestern), womit die heissblütige islamische Welt zu Gegenschlägen veranlasst werden soll. Sind diese erfolgt, so zögert man nicht, mit der grossen Keule zurückzuschlagen und die Schuld der anderen Seite zuzuschieben. Die Methode wurde speziell von den USA und ihren Bündnispartnern («Koalition der Willigen», NATO) vielfach erprobt.

Tatsächlich trägt der Westen insgesamt Mitschuld an dem, was heute den Palästinensern widerfährt. Sie liegt im Schweigen zu einem gigantischen Kriegsverbrechen, das sich vor ihren Augen abspielt. Zwar bemänteln die USA ihre Waffenlieferungen mit Ermahnungen und mit der Lieferung von Lebensmitteln – aber das bedeutet nur, dass gleichzeitig mit amerikanischen Versorgungspaketen weiterhin amerikanische Bomben auf die Menschen in Gaza herunterhageln. In Deutschland zweifeln der Kanzler und die Aussenministerin nicht daran, dass das israelische Vorgehen in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erfolge. Andere westliche Regierungen haben den Refrain übernommen – er ist ein Hohn auf den sogenannten Wertewesten.

In einer Zeit, in der uns die vertraute Welt Stück für Stück abhanden kommt, haben auch die Staatsformen keinen Bestand. Zwar werden von westlichen Koalitionen Kriege geführt und Millionen Menschen umgebracht, damit die vergewaltigten Zivilisationen in den Genuss von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten kämen. Aber in Tat und Wahrheit müssen wir uns fragen, was diese hochgelobte Staatsform im Westen selbst noch wert ist.

Heute, so scheint es, dominiert unter den Regierungssystemen weltweit die Einheitsvariante Plutokratie, die Herrschaft der Eliten (an Besitz, an Macht, an Entscheidungsgewalt). Zwar stehen in den Verfassungen die verschiedensten Dinge, denen gemäss wir früher Unterschiede ausmachten von Demokratie bis Diktatur. Aber Papier ist geduldig. Der Text bleibt bestehen, die Verhältnisse ändern sich. Vielerorts ist Verfassung nur noch Schall und Rauch. Der Wille zur Macht und die Gier treiben überall auf der Welt dieselben Cliquen an die Spitze. Die volonté générale, von der Rousseau vor 250 Jahren geschrieben hat, das Bekenntnis aller Staatsbürger (auch der Regierenden) zum Mehrheitswillen, die postulierte Übereinkunft zwischen Wählenden und Gewählten, ist zur Schimäre geworden.

Leider ist es keineswegs so, wie wir in der Schule gelernt haben, dass die Demokratie den Schluss- und Höhepunkt der staatsbürgerlichen Entwicklung darstellt. Tatsächlich wurde Demokratie von den Eliten aller Länder stets als Pöbelherrschaft bekämpft, vom alten Griechenland bis zu den amerikanischen Verfassungsvätern. Erst Ende des Ersten Weltkriegs kippte diese Auffassung, als den von den Schlachtfeldern zurückkehrenden Soldaten das allgemeine und gleiche Wahlrecht nicht länger verwehrt werden konnte. Zum Ausgleich setzte sofort im grossen Stil die Erforschung von Methoden der Massenmanipulation ein, um «Demokratie» zu ermöglichen und trotzdem die vielen Besitzlosen zum Schutz der wenigen Hochbegüterten zu zähmen. Damit konnten auch diese die Demokratie positiv bewerten. Eine entschärfte Demokratie, die ihnen die Entscheidungsgewalt beliess, war eine gute Demokratie. Man darf sie, ja, man muss sie überall durchsetzen. Das gibt Kriege, die sich lohnen. Nicht für die demokratische Basis, aber für die Eliten.

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