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Hoffnung für Amerika?

Das Beste war Lady Gaga. Von Joe Biden eingeladen, bei seiner Inauguration die Nationalhymne zu singen, war ihr Vortrag durch Temperament und Ausdrucksstärke ein Bild jenes Amerikas, von dem der neue Präsident träumt. Trotz eines zwanzigminütigen Appells gelang ihm selbst nur unzureichend, diese Vision glaubhaft über die Westtreppe des Capitols hinaus zu tragen. Woran lag es? An der Feier als solcher, die, ganz Zeichen der Zeit, ohne die Menschenmassen auf der National Mall wie ein Geisterspiel im Fussball wirkte? Oder daran, dass so viel Wertebeschwörung nach vier Jahren Trump wie eine Botschaft von einem anderen Stern klang? Der Versuch, die Präsidentschaft von Donald Trump als eine Art Betriebsunfall erscheinen zu lassen, verflüchtigte sich irgendwo in der Kälte dieses Wintertags.

Denn trotz seiner physischen Abwesenheit war Donald Trump allgegenwärtig an dieser Selbstinszenierung der amerikanischen Demokratie. Unfähig, in der Niederlage einen Anschein von Grösse zu wahren, hatte er das Weisse Haus am Vormittag quasi durch den Lieferanteneingang verlassen. Aber sein imaginärer Schatten wirkte stärker, als es bei Realpräsenz möglich gewesen wäre. Über der ganzen Feier schwebte die Frage, wie es hatte kommen können, dass dieser charakterlose Lügenbold, dieser notorische Steuerpreller, dieser hohlköpfige Staatsverdriesser zum Präsidenten eines Staates aufgestiegen war, dessen Demokratie als das Mass aller Politik gelobt wird. Wohl macht Biden jetzt per Verordnung viele der politischen Massnahmen Trumps rückgängig. Aber die Struktur, die Trumps Aufstieg ermöglichte, wird er weder verändern können noch wollen. Denn sie ist exakt jenes Betriebssystem, auf welchem er jetzt seine neuen Programme laufen lassen möchte, um Amerika zu alter Grösse zu verhelfen.

Es handelt sich also um ein in sich geschlossenes Kompendium von Widersprüchen. Biden hielt diesen in seiner Inaugurationsrede Beschwörungen und Durchhalteparolen entgegen nach dem Motto: Da müssen wir durch, und am Ende des Tunnels wird das Licht wieder scheinen. So fatal, wie sich die gegenwärtigen USA präsentieren, so bemüht hielt Biden dem Desaster seinen idealistischen Appell entgegen. Aber die Frage ist unvermeidbar, durch welche Checks gedeckt ist, was hier verheissen wurde. Wir wissen, sie sehr die Amerikaner dem Mythos verfallen sind: dem Mythos vom American Dream und vom Melting Pot, dem Mythos von Freiheit und Selbstverwirklichung, dem Mythos von vergangener Grösse. Nichts bedient diesen ganzen Katalog besser als das Ritual einer Inauguration, die sagt: Forward ho! Auf, in bessere Zeiten! Dieses Ritual produziert so viele symbolbeladene Bilder, dass die Amerikaner im Zerrspiegel ihre Nation für das halten müssen, was sie einmal war.

Die Gegenwart sieht anders aus. Hinter der jetzt gefeierten Verfassung, die letztlich doch obsiegt habe, liegt vieles im Argen. Amerika ist wund an vielen Schrunden. Zwei Lager bekämpfen sich in einem Hin und Her, in welchem ein Präsident per Dekret regiert, wonach der nächste die Dekrete seines Vorgängers wieder kassiert. Es ist ein Land, in dem der Präsident durch Begnadigungen das Recht auch dann aushebeln darf, wenn undurchsichtige Machenschaften seines eigenen Umfelds im Raum stehen (Trump sprach 143 Begnadigungen aus, darunter jene von Steve Bannon, der gemäss Anklage Millionen Dollars von Spendengeldern für die Mexikomauer unterschlagen hat). Ungewiss, was alles über Trump selbst an den Tag käme, würden die Prozesse gegen dieses zwielichtige Gesindel alle stattfinden. Es ist ein Land, wo 1 Prozent der Bevölkerung so viel besitzt wie die andern 99 Prozent zusammen. Wo 100 Millionen Menschen leben, die eine unvorhergesehene Ausgabe von 400 Dollar (Zahnarzt, Autoreparatur, Haftpflicht) nicht stemmen könnten. Es ist ein Staat, der das Völkerrecht missachtet, indem er andere Länder bombardiert, wenn es ihm tunlich erscheint (zuletzt in Syrien unter der Mitverantwortung des damaligen Vizepräsidenten Biden), oder indem er politische Gegner durch «gezielte Tötungen» liquidiert. Ein Staat, der gegen befreundete Nationen wirtschaftliche Sanktionen verhängt, wenn dessen Beziehungen zu Drittstaaten den eigenen geopolitischen Interessen zuwiderlaufen. Seit der neoliberalen Wirtschaftspolitik der 1980er-Jahre, eingeführt unter Ronald Reagan, neigt das politische System der USA dem zu, was heute «Trumpismus» heisst. Seither verwandelt sich in Recht, was einer monetären Elite nützt. Rechtspopulismus im Dienste plutokratischer Strukturen: das ist Trumpismus. Der Begriff ist unabhängig von seinem Namensgeber.

Interessanterweise versammelte die Inauguration vom Mittwoch die noch greifbaren Verantwortlichen dafür auf der Ehrentribüne: die Ex-Präsidenten Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama (nebst Trump fehlte nur Jimmy Carter). Und nicht zu vergessen Joe Biden als Vizepräsident Obamas... Lauter ältere, mit einer Ausnahme weisse Männer. Dass Biden jetzt idealistische Werte beschwört, ist erfreulich. «Words matter», sagt er selbst. Nur stehen seine Ideale den Interessen jener gegenüber, deren Zusammenarbeit er für eine idealere Politik bräuchte. Wie soll so die Zerrissenheit der Nation geheilt werden?

Aber dennoch war ein Funken Hoffnung in dieser Feier, nicht explizit in Worten, sondern implizit in Menschen. Gegenüber den Frauen multiethnischer Herkunft wirkten die alten weissen Männer wie Dinosaurier aus einer früheren Evolutionsstufe. Nebst Lady Gaga sang ebenso mutmachend Jennifer Lopez; sie versäumte nicht, auf Spanisch alle Menschen ihrer Herkunft mitanzusprechen. Vizepräsidentin Kamala Harris ist in ihrer Energie das Gegenbild zum leicht tattrigen Biden. Michelle Obama drängte vor die Kameras, wo sie einer habhaft wurde. Berührend der Rap der Lyrikerin Amanda Gorman. Wenn es eine Hoffnung für Amerika gibt, dann liegt sie hier. Bei den Frauen, in der Multiethnie, bei den unverbrauchten Köpfen mit den neuen Gesichtern.

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