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Für einen starken Staat

„Mehr Freiheit, weniger Staat!“ – so lautet seit Jahrzehnten die Botschaft, mit welcher sich die schweizerische FDP selbst bewirbt. Der Slogan als solcher ist genial: kurz und knapp, dennoch aber vielschichtig und voller impliziter Konzepte. Eigentlich hat er nur einen Nachteil: Er ist falsch. Falsch sind die in dieser Losung formelhaft suggerierten Gleichsetzungen von „mehr Staat“ und Unfreiheit oder von Deregulierung und „mehr Freiheit“. Richtig ist vielmehr, dass das seit den 1980er-Jahren gebets-mühlenartig propagierte neoliberale Credo von der Notwendigkeit, den Staat zu schwächen, der westlichen Welt zwar ein gigantisches Wirtschaftswachstum gebracht hat, aber auch alle damit verbundenen gesellschaftlichen Nachteile. Die Globalisierung, die – wie die Corona-Krise aufzeigt – uns in kaum verantwortbare Abhängigkeiten gestürzt hat, die Umweltzerstörung, den Raubbau an den natürlichen Ressourcen, die Aushungerung des service publique, die Gefährdung der Demokratie und eine sich permanent öffnende Schere der Wohlstandsverteilung. Und die Summe von all dem soll gleichbedeutend sein mit mehr Freiheit?

Der Neoliberalismus ist ein wirtschaftspolitisches Konzept, das in den USA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, genauer: an der Universität von Chicago, wo Milton Friedman lehrte. Während sich in Europa das Wirtschaftswunder ereignete, verfolgte in den USA die Lehre Friedmans das Ziel der radikalen Privatisierung. Weil in der Vorkriegszeit durch Roosevelts „New Deal“ der Staat erstarkt war, ging gemäss der Chicago-School kein Weg daran vorbei, alles, womit sich irgendwie Geld verdienen lässt, in den privaten Bereich zu transferieren, von der Bildung bis zum Strafvollzug. Der Staat wurde mehr und mehr auf seine Nachtwächterfunktion zurückgestuft (dass man dem Staat die Themen der inneren und äusseren Sicherheit belassen hat, hängt wesentlich mit den Rüstungsaufträgen zusammen, die von der öffentlichen Hand zugunsten der Waffenindustrie ausgelöst werden). In Europa gelang es, grosse Bevölkerungsteile am Wachstum teilhaben zu lassen und auf der Basis einer starken Sozialgesetzgebung breit verteilten Wohlstand zu erzeugen; demgegenüber hatte in den USA so etwas wie ein Sozialstaat nie eine Chance. Noch heute zehrt in Europa der Mittelstand von den Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft der 1970er-Jahre, während die Menschen in den USA am desolaten Zustand ihrer sozialen Einrichtungen leiden (Infrastruktur, öffentliche Bildung, Gesundheitswesen). Friedman war einsichtig genug zu erkennen, dass sich diese Privatisierungsrevolution im Rahmen ordentlicher demokratischer Abläufe (mit Wahlen und der Bestellung von Regierung und Opposition) nie würde durchsetzen lassen. Also setzte er zunehmend auf die so genannte „Schock-Strategie“: Wo immer sich ein gesellschaftlicher Schock einstellte – durch einen Krieg oder eine Naturkatastrophe (das erste planbar, das zweite nicht) – musste die Chance einer sich bietenden tabula rasa gepackt werden, damit sofort mittels einschneidender Deregulierung das Feld zugunsten privater Investoren geräumt werden konnte. Dieses gelang geradezu idealtypisch anlässlich des von der CIA geplanten Militärputsches in Chile 1973, wofür Friedman eine ganze Generation junger chilenischer Ökonomen in Chicago (dank vom US-Aussenministerium finanzierter Stipendien) vorbereitet hatte. Der chilenische Schlächter Pinochet, der den demokratisch gewählten Sozialisten Allende weggeputscht hatte, engagierte Friedman folgerichtig als Wirtschaftsberater. Ronald Reagan und Margareth Thatcher taten es ihm wenige Jahre danach gleich. In Sachen Schock-Strategie folgten weitere Beispiele von Privatisierungsschüben (nach der Solidaritätsbewegung in Polen 1980, nach dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg 2003, nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans 2005), die alle dem gleichen Stereotyp folgten: Unmittelbar nach dem Schock die sofortige Besetzung der Schlüsselpositionen durch neoliberale Experten, Anpassung der Gesetzgebung (oft mit Notrecht) zur Ermöglichung der Privatisierung von staatlichen Regiebetrieben sowie schnelle und massive Investitionen von Privaten, damit die überrumpelten Gemeinwesen langfristig in deren Abhängigkeit gebracht werden konnten. Mit dem Erfolg, dass nach diesem immer gleichen Muster auch immer die wenigen Gleichen zum Schaden vieler profitierten.

Gewiss, dem Slogan „Mehr Freiheit, weniger Staat!“ ist zuzustimmen, solange er mit „weniger Staat“ den Abbau von Bürokratie und die Reduktion aufgeblähter Beamtenapparate meint. Aber indem er vordergründig dieses vorschlägt, zielt er in Wahrheit auf etwas anderes: auf die Abwertung demokratischer Entscheidungsprozesse und auf die Verlagerung der gesellschaftlichen Steuerungshoheit von der Politik auf die Wirtschaft. Wer profitiert von der neoliberalen Welle? Sicher nicht die ehrlichen Altliberalen, nicht die schweizerischen KMUs und schon gar nicht der durchschnittliche Arbeitnehmer. Es profitieren die internationalen Konzerne, die den mittlerweile über Jahrzehnte geschwächten Staaten ihre Bedingungen diktieren. Die an ihren traditionellen Standorten „zu Hause“ gebliebenen Multis machen mit ihren permanent in den Raum gestellten Abwanderungsdrohungen die Staaten nicht nur erpressbar, sondern motivieren sie darüber hinaus, ihnen in vorauseilendem Gehorsam zu hoffieren und ihnen alle Wünsche von den Augen abzulesen. Weshalb zahlen die grossen Digitalkonzerne – Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft – praktisch keine Steuern? Weshalb gelingt es den deutschen Autoherstellern, die den Gesetzgeber und die Bevölkerung mit kriminellen Machenschaften betrogen haben, quasi ungeschoren davon zu kommen? Und weswegen wird, obwohl es aufgrund von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz je länger desto weniger Arbeit gibt, weiterhin stur am drückendsten der Lohn auf Arbeit besteuert, während alternative Besteuerungsmodelle (Digitalsteuer, Finanztransaktionssteuer) in unseren Parlamenten keine Chance haben?

Die Antwort ist einfach: weniger Staat, mehr Freiheit. Aber leider betrifft der Slogan, kritisch durchleuchtet, nur die Freiheit von wenigen: die Freiheit der Konzerne und ihrer massgeblichen Shareholder. Damit aber die Freiheit von vielen gestärkt wird, braucht es starke Demokratien. Eine solche ist nicht einfach ein Staat, der zuverlässig seine Wahlen durchführt, sondern einer, der überdies faire Debatten führt, der die Interessen und Finanzströme hinter den politischen Prozessen offenlegt, der seine Bürgerinnen und Bürger an der Agenda beteiligt und ihnen echte Alternativen zur Wahl stellt. Wirklicher Liberalismus verlangt nach einem starken Staat, nämlich nach einem, der die Wirtschaft steuert, und nicht nach einem, der von der Wirtschaft gesteuert wird. Wirklicher Liberalismus, der nichts anderes realisieren will als die Idee der freien Entfaltung des Individuums, will eine wirkliche Demokratie. Möglichst viel Freiheit im Sinne von „möglichst wenig Staat“ aber bedeutet immer nur die Freiheit von wenigen; Demokratie jedoch meint die Freiheit von vielen. Deshalb ist die Formel „Mehr Freiheit, weniger Staat!“ eine Gleichung, die nicht aufgeht. Mehr Freiheit ist nicht zu haben ohne einen selbstbewussten Staat mit starken demokratischen Strukturen. Niemandem müsste das ein dringenderes Anliegen sein als einem echten Liberalen.

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