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Erodierende Gewaltentrennung

Aktualisiert: 25. Sept. 2020

Am 20. April 2017 wurde im Hochsicherheitsgefängnis des amerikanischen Bundesstaates Arkansas ein Mann namens Ledell Lee hingerichtet, der bereits 24 Jahre in der Todeszelle verbracht hatte. Lee, 1965 geboren, schwarzer Hautfarbe, war des Mordes an Debra Reese für schuldig erkannt und zum Tod durch eine Giftspritze verurteilt worden, wobei er stets seine Unschuld beteuert und obwohl mehrere während des Prozesses beigezogene Experten die Beweisführung als mangelhaft bezeichnet hatten. Wenige Tage vor der Hinrichtung gelangten Lees Verteidiger mit einem Antrag auf Aufschub an den obersten Gerichtshof, um einen DNA-Test zu ermöglichen, welcher Lees Unschuld hätte beweisen sollen. Der Zeitdruck war deshalb gross, weil das für die Exekution vorgesehene tödliche Medikament Midazolam, das in Arkansas nur noch in ganz wenigen Dosen zur Verfügung war, wenige Tage vor seinem Ablaufdatum stand. Im Dilemma zwischen dem drohenden Verfall des todbringenden Gifts und der Neubehandlung der Strafsache Lee lehnte der Supreme Court in Washington den Antrag ab. Das Gericht gab dem Gift den Vorzug vor dem Rechtssinn und der Menschlichkeit.

Der Entscheid des Obersten Gerichtshofs war der erste, an welchem der von Präsident Trump damals frisch ins Amt gehobene Bundesrichter Neil Gorsuch beteiligt war. Nachdem das Oberste Gericht fast ein Jahr lang eine Vakanz aufgewiesen hatte, führte Gorsuchs Stimme zum 5:4-Entscheid gegen das Begehren um den Aufschub der Hinrichtung. Gorsuch, heute 53, gab damals in der Sache Lee quasi seine Visitenkarte ab; seither weiss man, was von ihm in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten ist. Trump hatte ein Jahr später ein weiteres Mal Gelegenheit, einen Kandidaten für den Obersten Gerichtshof vorzuschlagen; er entschied sich für Brett Kavanaugh, 55, der bis heute von mehreren Frauen sexueller Übergriffe bezichtigt wird. Gegen alle Widerstände wurde Kavanaugh von der republikanischen Mehrheit im Senat gewählt.

Seit letzter Woche, seitdem am 18. September 2020 die noch zu Zeiten von Bill Clinton gewählte Richterin Ruth Bader Ginsburg gestorben ist, besteht am Obersten Gericht der USA wiederum eine Vakanz und Trump und die Republikaner im Senat beeilen sich, die Lücke zu schliessen. Sie werden eine möglichst junge Person mit möglichst konservativer Gesinnung wählen, um – bei lebenslänglicher Amtstätigkeit – den reaktionären Geist möglichst auf Jahrzehnte hinaus zu sichern. Nach Besetzung der Richterstelle werden sechs der republikanischen Partei zuzuzählende Richter (drei ernannt von Trump, zwei von Bush-Sohn und einer von Bush-Vater) drei demokratischen gegenüberstehen (zwei von Obama nominierte Frauen – die beiden einzigen weiblichen Angehörigen des Gerichts – und ein von Bill Clinton bezeichneter Richter). Man kann ungefähr abschätzen, welches die Folgen auf die Rechtsprechung in den USA sein werden, insbesondere in vielen Fragen, die die Frauen betreffen (Gleichstellung, Abtreibung), die diskriminierten Minderheiten und manche Aspekte im Sozialrecht. Lauter Themen also, die der in den USA eminent verehrten Richterin Bader Ginsburg zentrale Anliegen waren und für die der richterliche Rückhalt jetzt fast vollständig entfällt.

Die Schamlosigkeit, mit welcher rechtspopulistische Kräfte die Rechtssprechung in ihre Richtung zwingen wollen, wird je länger desto radikaler. Wir mussten uns daran gewöhnen, dass Staatschefs wie Putin, Erdogan oder Orban die Unabhängigkeit der Justiz geradezu verhöhnen. Wir nahmen zur Kenntnis, wie lernbegierig sich andere zeigten – zum Beispiel Polen mit der Justizreform der PiS-Partei – und sich beeilten, den Trend der Stunde zu nutzen. Trump und seine einzig und allein am Machterhalt interessierten Republikaner fügen sich nahtlos ein ins Bild der erodierenden Gewaltentrennung und bröckelnden Recht-staatlichkeit.

Geradezu peinlich aber ist es, wie unreflektiert auch die schweizerische SVP versucht, ihr Süppchen auf diesem Schwelfeuer zu kochen. Ihr Misstrauensantrag gegen den aus den eigenen Reihen stammenden Bundesrichter Yves Donzallaz ist als Angriff auf die Unabhängigkeit unserer Gerichte nicht nur unverfroren, sondern geradezu einfältig. Es war ja sonnenklar, dass die Mehrheit der Bundesversammlung in der unbestrittenen Wiederwahl Donzallaz‘ die SVP zurechtweisen würde – und erst noch deutlicher, als das ohne das peinliche Säbelrasseln aus deren Parteizentrale und Parlamentsfraktion der Fall gewesen wäre. Mittelfristig kann die Folge nur darin bestehen, dass auch wir in der Schweiz erkennen, wie sehr der Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz ein Phänomen ist, das vor Landesgrenzen und dem Respekt gegenüber der Verfassung keinen Halt macht. Der Kampf um den Rechtstaat erfordert unsere höchste Aufmerksamkeit. Die USA, selbsternannte Schutzmacht der Demokratie, ist gegenwärtig drauf und dran, ihn zu verspielen.

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