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Ein kleiner Schritt - aber in die richtige Richtung

Aktualisiert: 11. Juni 2021

Grosse Worte fielen, als die Finanzminister der sieben wichtigsten Industriestaaten vor einer Woche ihr Meeting in London zu Ende brachten: Historisch sei das Ergebnis, epochal, beispiellos, eine Revolution. Was war passiert? In der Vorbereitung des Treffens ihrer Regierungschefs haben die Finanzminister beschlossen, sich nicht länger von den globalisierten Grosskonzernen auf der Nase herumtanzen lassen zu wollen. Konkret: Es soll Ende sein mit dem Steuerdumping. Der Unsitte, dass sich die Staaten gegenseitig unterbieten im Rennen, die Multis der Weltwirtschaft an ihre Standorte zu locken, soll der Riegel geschoben werden. Für die Zukunft wurde weltweit ein Mindeststeuersatz von 15 Prozent für Unternehmungen angekündigt, sofern sie einen Gewinn von mehr als zehn Prozent ihres Umsatzes erzielen.

Das ist eine gute Nachricht. Die Politik beginnt endlich einzusehen, dass es nicht ihre Aufgabe sein kann, den internationalen Konzernen alle Wünsche von den Augen abzulesen. Vielmehr machen die grossen Krisen der Gegenwart dringlich, dass die Politik das Supremat über die Wirtschaft zurückgewinnt. Es war höchste Zeit, dass ein solcher Vorstoss erfolgte. Er war von der amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen initiiert und trägt klar die Handschrift ihres Chefs Joe Biden.

Wie kommt es, dass ein amerikanischer Präsident, der nächstes Jahr 80 wird und über dessen nachlassende Kräfte viel spekuliert wurde, plötzlich zum Hoffnungsträger auf eine weltwirtschaftliche Weichenstellung wird? Die Antwort ist einfach: Die politische Biographie von Joe Biden reicht bis in die 1960er-Jahre zurück. Damals galt das Primat der Politik über die Wirtschaft. Damals hat ein deutscher Bundeskanzler der CDU (und nicht etwa der SPD!), Ludwig Erhardt, die soziale Marktwirtschaft erfunden. Und damals war es noch möglich, dass ein ehemaliger Fünfsternegeneral und Präsident der USA die Welt vor der amerikanischen Rüstungsindustrie warnte. In seiner Abschiedsrede im Januar 1961, als er John F. Kennedy den Platz räumte, sagte Dwight D. Eisenhower: «In den Regierungen müssen wir uns davor hüten, dass der militärisch-industrielle Komplex ungerechtfertigten Einfluss erwirbt. Das Potenzial für den katastrophalen Aufstieg fehlgeleiteter Macht ist vorhanden.“

Eine solche Aussage des Präsidenten der weltführenden Nation in Sachen Rüstung und Waffenexport wäre seither ein Ding der Unmöglichkeit. Joe Biden aber ist sie zuzutrauen. Denn er, der noch keine vier Monate im Amt ist, überliefert wirtschaftspolitische Prämissen, die vor 50 oder 60 Jahren gegolten haben. Kein Zweifel: Damals lag vieles im Argen, insbesondere bezüglich der Rechte, die die Staaten den Menschen gewährten. Der Vietnamkrieg eskalierte in seine schlimmste Phase. Die Franzosen führten einen fürchterlich schmutzigen Krieg in Algerien. Der Prozess der Entkolonialisierung forderte grausame Opfer. Aber noch war es so, dass die Politik der Wirtschaft die Regeln diktierte.

Das Ende kam im Herbst 1973, und zwar in Form des unter der Regie der CIA durchgeführten Staatsstreichs in Chile. Der demokratisch gewählte Präsident Allende wurde von einer Junta unter General Pinochet weggeputscht. Allende nahm sich noch gleichentags das Leben. Mehr als 20'000 weitere Opfer forderte der Putsch: Opfer der Folter, der Erschiessungskommandos, und Menschen, die zu Tausenden aus Flugzeugen vor der chilenischen Küste in den Pazifik gestürzt wurden.

Das alles ist schon schlimm genug. Aber noch perverser wird die ganze Geschichte, wenn man sich vor Augen führt, welche wirtschaftspolitischen Ideen die Vorgeschichte dieses Staatsstreichs ausmachen. Seit den 1950er-Jahren verbreitete an der Universität von Chicago Milton Friedman seine ökonomische Theorie des Neoliberalismus. Alles, womit sich Geld verdienen lässt, muss privatisiert werden. Der Staat zieht sich aus allen seinen Aufgaben zurück mit Ausnahme der Sicherheit. Bildung, Gesundheit, Infrastruktur – alles wird dereguliert und privatisiert, bis hin zum Strafvollzug oder zu Teilen des Militärs. Friedman war klar, dass sich ein solches Konzept nicht auf demokratischem Weg durch die Parlamente realisieren liess. Deswegen setzte er auf eine Art Tabula-rasa-Politik: Ein Putsch sollte irgendwo auf der Welt die Demokratie ausser Kraft setzen und seine Idee des Neoliberalismus diktatorisch einführen. Friedman suchte sich Chile aus und holte bereits zehn Jahre vor dem Putsch junge chilenische Ökonomie-Studenten mit Stipendien – vom CIA finanziert – an seine Hochschule. Die «Chicago-Boys» übernahmen sofort nach dem Putsch in der Regierung Pinochet alle Schlüsselpositionen der chilenischen Wirtschaft.

Das gefiel den Konzernen dieser Welt, und die allsogleich einsetzende Ölkrise (November 1973) tat ihr Übriges. Ab 1980 gab es in London (Margreth Thatcher) und Washington (Ronald Reagan) konservative Regierungen, die ihre Aufgabe einzig darin sahen, Erfüllungsgehilfen des Neoliberalismus zu sein. Es wurde dereguliert auf Teufel-komm-raus, und als die Staaten sich auf kümmerliche Reste ihrer selbst reduziert hatten, übernahmen die Konzerne das Gesetz des Handelns. Seither hecheln die Regierungen aller Länder den Konzernen hinterher und lassen sich von ihnen die Bedingungen diktieren, damit sie geruhen, sich an einem bestimmten Standort niederzulassen. Ihre Wegzugsdrohung ist die Totschlagskeule gegen jeden Versuch, sie im gerechten Mass (zum Beispiel gemessen daran, welchen Anteil ihres Einkommens die Bürgerinnen und Bürger abgeben) zu besteuern.

Es ist noch ein langer Weg, bis der Vorschlag der G7 rechtskräftig sein wird, und der geforderte Minimalsatz von 15 Prozent liegt verdächtig nahe beim absoluten Minimum von ca. zwölf Prozent, das derzeit etwa in Irland oder in bestimmten schweizerischen Kantonen eingezogen wird. Aber obwohl die FDP sich um ihre Shareholder sorgt und obwohl die SVP wegen angeblichem Souveränitätsverlust Zeter und Mordio schreit – es ist ein Schritt in die richtige Richtung, endlich.

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