Die Metamorphose Russlands von einer poststalinistischen Diktatur über einen pseudodemokratisch gelenkten Staat zu einem totalitären Gebilde neostalinistischer Prägung beschleunigt sich in einem beängstigenden Ausmass. Seit Wochen ist Wladimir Putin im Begriff, alle Masken und Hemmungen fallen zu lassen. Sein aussenpolitisches Säbelrasseln mit dem Aufmarsch von 100'000 Mann an der ukrainischen Grenze toppte er in der letzten Woche des Jahres mit Massnahmen innenpolitischen Terrors. Am Dienstag und am Mittwoch hat die russische Justiz zwei Abteilungen der Menschen- und Bürgerrechtsorganisation «Memorial International» das Existenzrecht entzogen. Die Richter folgten der Argumentation der Staatsanwaltschaft, die von westlichen Schwesterorganisationen finanzierten Vereinigungen seien «Agenten» des Westens und hätten das Ansehen Russlands in den Schmutz gezogen.
Der Vorwurf ist mehr als fadenscheinig. «Memorial International» genoss im Ausland hohes Ansehen und stellte in bestimmter Hinsicht eine Art «Gewissen» für den letzten Anschein von Rechtsstaatlichkeit dar, der Russland von Putins Gnaden noch aufrechterhalten konnte. Aber statt dass Putin so klug gewesen wäre, die Menschen- und Bürgerrechtler gerade deshalb gewähren zu lassen, eliminierte er sie in einem rein politisch motivierten Schauprozess. Es war ein weiterer Akt von Staatsterrorismus. Im Grund einer, der nach den vorangegangenen Attentaten auf Dissidenten im In- und Ausland (inklusive der mehrjährigen Verbannung von Alexej Nawalny in ein Arbeitslager) nicht überraschen konnte.
Eine Stossrichtung der Moskauer Urteile ist die Reinwaschung der russischen Geschichte von jeglichem Übel, das die vaterländischen Gefühle der hintersten sibirischen Dumpfbacken trüben könnte. Insbesondere ist es Putin ein Anliegen, das Ansehen von Josef Stalin reinzuwaschen, eines der grössten Menschenverächter der Geschichte. Aber der Versuch, dessen Verbrechen zu tünchen, ist müssig – wer sich nur ein bisschen mit der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts befasst hat, weiss von den Gulags, von den Schauprozessen, von den ethnischen Säuberungen, von den Massengräbern aus den 30er- und 40er-Jahren, die bis heute mit Regelmässigkeit entdeckt werden. Und die Ukrainer und alle Angehörigen der baltischen Staaten wissen von den Millionen durch Hunger in den Tod geführter Angehöriger von Randnationen des sowjetischen Vielvölkerstaates.
Das Problem, um das es sich hier handelt, ist das Verhältnis von Staaten zu ihrer eigenen Geschichte. Je geringer die demokratische Durchdringung eines Landes ist, desto versessener sind die Machthaber darauf, die ideologischen Leitlinien ihrer jeweiligen Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Dass dabei die Fälschung der Erinnerungskultur ein bewährtes Instrument ist, führt uns den ideologischen Gehalt von Geschichtsschreibung vor Augen. Donald Trump mit seinen «alternativen Fakten» lässt grüssen. Alle ideologischen Verzerrungen unserer Zeit müssten jedem Geschichtslehrer und jeder Geschichtslehrerin bewusst machen, wie wichtig seine und ihre Aufgabe ist. Die Zeiten sind vorbei, als die Lehrpläne für Geschichte verlangten, den Schülern und Schülerinnen (sofern auch die Mädchen für den Geschichtsunterricht als geeignet taxiert wurden) sei eine möglichst tiefe «vaterländische Gesinnung einzupflanzen». Denn wie gewinnbringend kann ein patriotisches Empfinden sein, wenn es auf falsche Fundamente gebaut ist?
In Deutschland – dem Staat, der wie kein anderer im 20. Jahrhundert Schuld auf sich geladen hat – hat sich die Bundesrepublik wohl nicht zuletzt deshalb zur vitalsten Demokratie der Nachkriegszeit entwickelt, weil sie sich allen Verbrechen der Nation gestellt hat. Andere, weniger schwer belastete Länder, tun sich schwerer. Frankreich ist es noch nicht vollständig gelungen, bestimmte Themen um die «collaboration» aufzuarbeiten, ganz zu schweigen von den Sünden, die in der Kolonialzeit und während der Dekolonialisierung begangen wurden (beispielsweise während des Algerienkrieges). Die englische Geschichtsschreibung steht der französischen hierin keinen Deut nach. Jenseits des Atlantiks verdrängen die USA nicht nur die Schandtaten ihrer rassistischen Geschichte und des Genozids an den Ureinwohnern. Auch viele Aspekte der modernen Geschichte werden zwar erforscht, die Ergebnisse dringen aber nicht ans Ohr einer breiteren Öffentlichkeit. Sehr wohl verschaffen sich dagegen fundamentalistische Evangelikale Gehör, die darauf drängen, dass beim Thema Evolution die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte an den Schulen gelehrt werde.
Auch die Schweiz liess ein paar Jahrzehnte Nachkriegsgeschichte verstreichen, ehe man sich mittels des Berichts der «Unabhängigen Expertenkommission» um François Bergier Klarheit über die «nachrichtenlosen Vermögen» aus der Zeit des Nationalsozialismus verschaffte und dabei Berge von Widerständen und Mythen aus dem Weg räumen musste. Und noch im Nachhinein gab es Kantone, die sich sträubten, Schulbücher und Unterrichtshilfen zuzulassen, die auf der Basis des Bergier-Berichts entstanden waren.
Weshalb diese Angst vor der eigenen Geschichte? Einem aufgeklärt denkenden Menschen fällt es schwer, diese Frage zu beantworten. Die eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen, heisst, einen Diskurs über die Frage zuzulassen, woher wir kommen. Nationalkonservative Kreise, die ihn sich von diesem Diskurs fernhalten, wollen mit der Kritik an der Geschichte Kritik generell unterbinden, vor allem Kritik an sich selbst. Insofern wird, aus der Sicht eines Wladimir Putin, die Kritik an Stalin zur Kritik an Putin selbst. Das ist eine fatale Gleichsetzung, auf die wir am Übergang zu einem neuen Jahr eigentlich lieber verzichtet hätten.
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