Grosse Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Noch ein knapper Monat, und wir werden alle erfasst von einer Publikationsflut mit fatalen Erinnerungen an 9/11, an die Attacken auf das World-Trade-Center und auf das Pentagon vor 20 Jahren. Deren epochaler Charakter war so immens, dass noch die Erwartung des 20. Jahrestags Vorboten über die Welt schickt, ein Abbild des Unheils, das uns seit damals beherrscht.
Vorboten des Unheils sind die amerikanische Ankündigung, exakt zum 20. Jahrestag der damaligen Invasion Afghanistans sämtliche Truppen von dort wieder abzuziehen. 20 Jahre seien genug, beschied Präsident Biden. Eine Billion Dollar hätten die USA aufgewendet, 300'000 afghanische Soldaten ausgebildet, die das Land jetzt aus eigenen Kräften schützen könnten. Er will einen Schlussstrich ziehen, aus innenpolitischen Gründen (wie alles, was ein amerikanischer Präsident beschliesst). Wie wenn das so einfach wäre. Diese Woche haben wir vernommen, wie schnell in Afghanistan die Taliban den Rückzug der amerikanischen Truppen nutzen, um das Land unter ihre Kontrolle zu bringen und den islamistischen Terror zu installieren.
Wenn die Erinnerungskultur, die uns zum 20. Jahrestag ins Haus steht, einen Sinn haben soll, dann dürfen wir uns nicht in die Schauer damaliger Emotionen flüchten, sondern dann müssen wir schonungslos aufbereiten, weshalb es im Oktober 2001 zum Krieg in Afghanistan gekommen ist (das Problem der Aufklärung der Attacken von 9/11 sparen wir uns vorderhand auf und konzentrieren uns ganz auf die Frage, wie und weshalb lokale Ereignisse in Nordamerika zu einem Krieg am Hindukusch geführt haben).
In den Tagen nach dem 11. September 2001 stand die Welt unter Schock, und insbesondere die westliche Welt. Deren Schutzmacht war in einer Weise angegriffen worden, die in der Geschichte keinen Vorläufer hatte. Die amerikanische Regierung um Präsident Bush, seinen Vize Cheney, Verteidigungsminister Rumsfeld und dessen Stellvertreter Wolfowitz nutzte den Schock, um einige Beschlüsse von enormer Tragweite durch den Kongress zu peitschen, die erstens längst auf ihrer Agenda standen und zweitens unter den normalen Gegebenheiten eines demokratischen Staates mit einer aktiven Opposition nie schlank durchgegangen wären. Diese Beschlüsse liessen sich im Begriff «Krieg gegen den Terror» zusammenfassen. Er schloss zum einen den «Patriot Act» ein – massive Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte im Innern –, andererseits, zum ersten Mal in der Geschichte, den NATO-Bündnisfall. Die USA definierten die Attacken von 9/11 als Angriff einer feindlichen Macht, wie wenn es sich dabei um eine klar bezeichnete Nation gehandelt hätte. Im Lichte dieser einseitigen Ansage standen jetzt plötzlich alle NATO-Mitgliedsländer – von Deutschland bis zur Türkei – im Krieg. Bloss: Gegen wen?
Das eigentliche Ziel der Regierung von George W. Bush war der Irak mit seinen riesigen Erdölvorkommen. Diese unter die Kontrolle der USA zu bringen, war seit 1997 erklärte Absicht eines Think-Tanks mit dem Titel «Project of the New American Century» mit den führenden Köpfen Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz – exakt die Mannschaft der späteren Regierung Bush. Der Krieg gegen den Irak war seit 1997 geplant, eine beschlossene Sache. Jetzt galt es, die (Un-)Gunst der Stunde zu nutzen. Sofort wollte man losschlagen. Aber ungeschickterweise führten alle Bemühungen der CIA zu keinem Ergebnis, irgendwelche Zusammenhänge zwischen Saddam Hussein, dem Diktator des Irak, und der al-Qaida zu konstruieren, dem Terrornetzwerk, welchem 9/11 zur Last gelegt wurde. Das Ziel, zu welchem man die Anschläge gerne genutzt hätte, entfiel. «Gut», sagte Präsident Bush in entlarvender Offenheit, «wenn wir den Irak nicht bombardieren können, dann bombardieren wir Afghanistan». Iraq can wait.
Als Kriegsgrund wurde angegeben, Afghanistan würde Osama bin Laden und der Führungsriege von al-Qaida Unterschlupf gewähren. Die afghanische Nation hatte zwar den Vereinigten Staaten von Amerika und der NATO nie das Geringste angetan, aber dennoch wurde das Land zum Objekt des Bombenterrors des nordatlantischen «Verteidigungs»-Bündnisses… mit allen Konsequenzen betreffend das Leid der Bevölkerung, die Zerstörung der Lebensgrundlagen, die Erzeugung von unendlichen anti-westlichen Ressentiments und einer fatalen Radikalisierung von islamistischen Extremisten, den Taliban. «Ich bin halt ein Kriegspräsident», strahlte Bush in seiner unnachahmlichen Hohlköpfigkeit in die Kameras.
Nach 20 Jahren ziehen die USA jetzt ab aus Afghanistan. Nach uns die Sintflut. Die Ernte des Hasses, den sie gesät haben, wird eingefahren. Die Taliban marschieren vor. Die Hälfte aller Provinzhauptstädte ist bereits in ihrer Gewalt, mehr als 200 von 400 Distrikten beherrschen sie. Was das an innerem Terror in Afghanistan für die Zivilbevölkerung und insbesondere die Frauen bedeutet, wagen wir uns gar nicht vorzustellen. Die Schreckensbilder, die wir gewärtigen müssen, werden unsere vorgefassten Meinungen bestätigen. Der Zulauf zu den rechtsradikalen Parteien Europas ist garantiert. Die Fluchtbewegung hat bereits eingesetzt, nach Pakistan, in den Irak. Kein Zweifel, dass die Flüchtlingsströme auch Europa erreichen werden. Rückführungen abgewiesener Asylbewerber nach Afghanistan werden in Kürze nicht mehr möglich sein. Die Blindheit, mit welcher die europäischen NATO-Partner der USA in den Krieg gegen Afghanistan gefolgt sind, weil sie der Schockwirkung von 9/11 verfielen, müsste ein Thema der historischen Aufarbeitung werden.
Wird sie aber nicht. Einzustimmen in den Chor der gängigen Feindbilder ist deutlich einfacher und führt zu keinen Konflikten mit der westlichen Führungsmacht. Der Krieg sei der Vater aller Dinge, wird gemeinhin Heraklit zitiert, ein griechischer Philosoph aus vorsokratischer Zeit. Wie er das meinte, werden wir nie erfahren. Fest steht nur, dass der Welt viel Unheil erspart geblieben wäre, hätten die Söhne weniger auf die Väter und mehr auf die Mütter gehört.
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