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Amerika hat die Wahl

In Max Frischs Roman „Stiller“ – derjenige, der 1954 sein erster grosser Erfolg wurde und ihn erstmals einem grösseren Lesepublikum bekannt machte – gibt es folgende schöne Stelle: Stiller, der in einem schweizerischen Untersuchungsgefängnis einsitzt, erhält in seiner Zelle Besuch von einem ehemaligen Schulfreund. Über dessen politische Empfindungslosigkeit regt er sich so auf, dass er ihn „rundheraus (der Ausdruck ist grob, doch fällt [ihm] auch bei längerem Nachdenken kein anderer Ausdruck ein) ein Arschloch“ nennt. Später, allein in seiner Zelle, wiederholt er „noch mehrmals diesen einzigen Ausdruck“ [Werkausgabe III/2, S. 598]. Die Stelle gefällt deshalb, weil sie dem Bedürfnis in wohltuender Art und Weise nachkommt, dass wir manchmal gegen jede Political correctness die Dinge gern beim Namen nennen.

Seit vier Jahren will mir diese Stelle nicht aus dem Kopf. Seit vier Jahren, seit Donald Trump in unser politisches Bewusstsein getreten ist. Hektoliterweise ist Druckerschwärze vergossen worden, um dem Unfassbaren gerecht zu werden. Anfänglich überstieg es unser Fassungsvermögen, dass so ein gross-kotziger, egomanischer Ignorant Präsident der USA und mächtigster Mann des Globus werden konnte, noch dazu verfassungskonform von der Bevölkerung eines Landes gewählt, das stolz ist auf seine demokratischen Strukturen. Fast verzweifelt haben sich viele Welterklärer in ihren Kommentarspalten gewunden, Trumps Präsidentschaft zu interpretieren und trotzdem die offensichtlich zwingende Gefolg-schaftstreue zur Führungsmacht des Westens hochzuhalten: Bei allen zugestandenen persönlichen Besonderheiten habe er doch Jobs geschafft (unterbezahlt und ohne anständige Arbeitsverhältnisse), habe das Volkseinkommen vermehrt (ohne die Verteilung zu berücksichtigen), keine Kriege begonnen (aber die Rüstungsausgaben in noch perversere Höhen geschraubt) und sei dem Establishment entgegengetreten (mit einer Steuerreform, von der fast ausschliesslich die Milliardäre profitierten).

Aber kein Kommentar bringt es auf den Punkt wie die zitierte Stelle aus dem „Stiller“. Alle Relativierungen zerschellen an der Unsäglichkeit von Trumps Charakter, zu welchem auch bei längerem Nachdenken kein besserer Ausdruck passt als der von Frisch gewählte. Trump ist die Gallionsfigur unserer niedersten Instinkte. Er hat die Lüge in der Politik salonfähig gemacht und den Eigennutz zum Kult erhoben. Die Folgen sind das Desaster, vor dem die Welt heute, am Wahltag in den USA, steht: das Desaster der gespaltenen Gesellschaft, des Rassismus, der Umverteilung von unten nach oben, der Handelskriege, der Ignoranz gegenüber unserem andrängendsten Problem, der Klimaerwärmung.

Noch dramatischer ist, wie auf der politischen Ebene Trump den Beweis verkörpert, wie obsolet der Begriff Demokratie geworden ist. Die Manipulierbarkeit der Massen wurde in den USA vor 100 Jahren zum Forschungsgegenstand erhoben (Walter Lippmann, „Public opinion“, 1922; Edward Bernays, „Propaganda“, 1928, u.v.m.), und zwar exakt in der Absicht, die grosse Masse der Wählenden so zu steuern, dass diese glauben, die Interessen der besitzenden Minderheit seien ihre eigenen. Kein politisches Projekt war seither erfolgreicher. Die Methoden waren anfänglich plump (Gewaltpropaganda im Faschismus und Stalinismus), aber sie haben sich seither Schritt für Schritt subtilisiert. Mit der Wahl Trumps vor vier Jahren endete dieser Prozess in der von „Cambridge Analytica“ entwickelten Möglichkeit, die Masse nicht durch Massenpropaganda zu steuern, sondern durch gezielte individuelle Kommunikation. Seither ist nicht einsichtig, wie in Zukunft vermieden werden kann, dass eine Wahl dieser Grössenordnung von demjenigen gewonnen wird, der über das mächtigste Budget verfügt. Wer hat die Milliarden, um bei Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft die Daten zu kaufen, die wir alltäglich hinterlassen (und dann zusehen, wie andere sich damit eine goldene Nase verdienen)?

Heute hat Amerika die Wahl. Wird sich Trump mit all seinen Tricks wiederum durchsetzen? Der Hoffnungsschimmer ist ausgerechnet in den Niedrigkeiten seines Charakters begründet. Sein Widersacher Joe Biden hat nicht viel mehr in den Wahlkampf einzuwerfen als das Image von Anstand und Integrität. Demgegenüber hat die Corona-Krise Trumps Mentalität so grell ins Licht gerückt, dass viele Menschen ihren Wahlentscheid aus einem Abwehrreflex treffen. Sie haben schlicht und ergreifend verstanden, wie Trump funktioniert. Eben so, dass uns auch bei längerem Nachdenken keine treffendere Umschreibung einfällt.

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