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AutorenbildReinhard Straumann

Zwar ist es wahr...

Nun ist es also soweit. Alle Proteste verpufften ins Leere, jegliche Versuche von Rechtshilfe waren für die Katz. Julian Assange wird von der britischen Justiz mit dem erwarteten Urteil vom 20. Mai an die USA ausgeliefert. Inhaltlich gilt es nur noch als Formsache. Der Rechtsstaat kapituliert vor dem transatlantischen Druck. Um moralisch etwas besser dazustehen, haben sich die Londoner Richter von ihren amerikanischen Kollegen die Zusage geben lassen, es drohe dem Angeklagten keine Todesstrafe. Was für ein Hohn. Wenn Assange auch der Elektrische Stuhl, die Giftspritze, ein Erschiessungskommando oder der Galgen erspart bleiben, so drohen ihm doch 175 Jahre Gefängnis. Stösst er auf einen milden Richter, so erhält er nur 100. Also die schlimmste aller Hinrichtungsarten, die Todesstrafe auf Raten. Assange wird im Hochsicherheitstrakt eines amerikanischen Gefängnisses krepieren wie Nawalny in Sibirien.

Wessen ist Assange bezichtigt? Er hat auf der Plattform Wikileaks 2010 einen Datensatz von einer Viertelmillion vertraulicher Nachrichten aus amerikanischer Botschaften veröffentlicht, der ihm von einer Soldatin namens Chelsea Mannings zugespielt worden war, die für die USA im Irak Dienst tat. Die Dokumente enthielten hoch brisante Informationen. Etwa – so auf einem Video zu sehen –, wie aus einem amerikanischen Militärhelikopter Zivilpersonen grundlos über den Haufen geschossen werden, darunter zwei Journalisten von Reuters. Desgleichen fanden sich Dokumente über amerikanische Folterpraktiken in Abu Ghraib. Weil Assange das öffentliche Interesse erkannte und mutig genug war, sitzt er mittlerweile seit fünf Jahren in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis in Isolationshaft. Unter Bedingungen notabene, die gemäss dem schweizerischen Menschenrechtsexperten Nils Melzer die Kriterien der Folter erfüllen. Toll. Statt dass die Folterer zur Rechenschaft gezogen würden, wird der Informant gefoltert.

Mit dem Urteil gegen Assange ist das Ende des für eine Demokratie unverzichtbaren Investigativjournalismus’ eingeläutet. In der Begründung wird festgestellt werden, der Australier Assange hätte sich in seiner Arbeit an die amerikanischen Gesetze halten sollen. Wie wenn ein amerikanischer Journalist, der gegen Russland recherchiert, sich an die russischen Gesetze halten müsste. Das ist absurd. Die Wahrheit heutzutage darin, dass man die Wahrheit nicht mehr sagen darf.

Ist es wahr, dass der Ukraine-Krieg von den USA provoziert wurde, um eine Annäherung zwischen der EU und Russland zu verhindern, weil diese die amerikanische Hegemonie gefährden würde? Ja, aber man darf es nicht sagen, denn sonst wird man als Putin-Versteher heruntergemacht und ausgegrenzt. Ist es wahr, dass der Krieg von der westlichen Koalition nicht gewonnen werden kann, aber trotzdem weiterläuft, weil dies der amerikanischen Waffenindustrie nützt, weil nur junge Ukrainer fallen und Russland gezwungen wird, Munition zu verpulvern? Ja, aber man darf es nichts sagen. Ist es wahr, dass Israel den Krieg gegen die Hamas nützt, um den Gaza-Streifen wieder für eine israelische Besiedlung öffnen zu können? Ja, aber man darf es nicht sagen. Tut man es trotzdem, gilt man als Antisemit und muss mit Konsequenzen rechnen. Ist es wahr, dass der sogenannte Wertewesten einen Genozid toleriert, um die Stellung im Nahen Osten halten zu können? Ist es wahr, dass der kleine Bush, Tony Blair und Konsorten Tatbestände von Kriegsverbrechen erfüllen und wie Putin steckbrieflich ausgeschrieben werden müssten? Ist es wahr, dass der Untersuchungsbericht zu 9/11 das bedruckte Papier nicht wert ist, weil er hundert relevante Fragen gar nicht stellt? Ja, es ist wahr. Aber man darf es nicht sagen, weil man sonst als Verschwörungstheoretiker gilt und nicht mehr ernst genommen wird.

All das ist wahr. Aber man darf es nicht sagen, weil der westliche Informationsapparat aus staatlichen Strukturen und willfährigen Medien mit Argusaugen über die selbst generierten Narrative wacht. Wer diese kontrolliert, hat die Macht. Der Westen ist gut, Russland und China sind böse. In der Ukraine wird «unsere» Demokratie verteidigt wie weiland am Hindukusch und am Mekong. Putin ist ein Unmensch, mit dem man keinesfalls verhandeln darf. Sollte er den Krieg gewinnen, wird er nicht zögern, sofort das Baltikum anzugreifen. Indem Israel mehrere Zehntausend Palästinenser abschlachtet, betreibt es Selbstverteidigung. Solange all diese Narrative als Wahrheit genommen werden, solange kann die mörderische Interessenspolitik der Kriegstreiber vorangehen.

«Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten», so schrieb Bert Brecht zur Zeit der Nazi-Gräuel An die Nachgeborenen. «Das arglose Wort ist töricht. Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst.» Heute sind wir wieder so weit. Wer sich öffentlich äussert, hat exakt zwei Optionen: Entweder in «arglosen Worten» über «Bäume» zu reden – das heisst über das Belanglose, über den European Song Contest, über das Wetter oder über Fussball –, oder die Meinung der Mainstream-Medien zu teilen, also die Interessen der turbokapitalistischen Eliten. Diese dürfen wir laut vertreten – Main-Stream-Journalisten tun nichts anderes. Erlaubt ist, mit den Wölfen zu heulen. (Dass ich all das hier sagen darf, ist meiner geringen Reichweite geschuldet. Hätte ich jene von Julian Assange, erginge es mir wie ihm.)

Ohne Pressefreiheit keine Demokratie. Die USA, die sich als Schutzmacht der Demokratie inszenieren, schicken sich an, mit der Entsorgung von Julian Assange in einem Hochsicherheitstrakt eines unmenschlichen Gefängnisses einen der letzten Leuchttürme der Pressefreiheit einzureissen. Damit arbeiten die USA und die restliche Westwelt an der Zerstörung der Demokratie, die sie angeblich verteidigen. Leider ist das wahr, aber niemand an einflussreicher Stelle darf es sagen.

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