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Sagen, was Sache ist

Netanjahu treibt es auf die Spitze. Nie seit dem Zweiten Weltkrieg gab es im Bereich der westlichen Welt so offenkundigen Völkermord wie denjenigen, den der israelische Premierkriminelle derzeit im Gazastreifen veranstaltet. Jedermann kennt Netanjahus Idee von einer Nachkriegsordnung: Grossisrael, in dem das palästinensische Volk keinen Platz hat. Es muss weg. Der Bezug auf den Zweiten Weltkrieg ist bewusst gewählt. Grossisrael braucht den Gazastreifen, denn der gibt Lebensraum im Südwesten (kommt uns irgendwie bekannt vor…) und sichert die im Mittelmeer vorgelagerten Öl- und Gasvorkommen. Deshalb müssen die Palästinenser weg, gehauen, gestochen, ausgehungert. Das einzige Problem ist nicht etwa das unsägliche menschliche Leid, das durch diese mittelalterliche Strategie des Gröfaz des Nahen Ostens erzeugt wird, sondern die Weltöffentlichkeit, die sich nach und nach Fragen zu stellen beginnt.

Bisher hat sich der versammelte Westen mit der Pauschalrechtfertigung Netanjahus zufriedengegeben: Die Hamas ist eine Terrororganisation. Eine permanente Gefahr für Israel, ergo muss sie zerstört werden (hat sich schon jemand gefragt, was das israelische Militär in den Augen der Hamas ist?). Und da die Hamas tief in die palästinensische Gesellschaft – sofern es diese noch gibt – hineinverwoben ist, bedeutet das, palästinensisches Leben insgesamt ist zu vernichten (ein paar Quoten-Palästinenser kann man ja leben lassen, wegen des internationalen Echos). Selbstverteidigung ist das Zauberwort, mit welchem Israel seine Verbrechen tarnt. (Wohlverstanden: Über die Berechtigung einer angemessenen Reaktion Israels auf die Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober 2023 gibt es keine Zweifel.)

Alle wissen, dass das, was seit Monaten stattfindet, nicht angemessen ist und mit Selbstverteidigung nichts zu tun hat. Aber alle schweigen. Alle: das sind unter anderen sämtliche westlichen Regierungen. Die Aussenminister ducken sich weg, sondern ab und zu «Besorgnis» ab und liefern Waffen, zum Wohlgefallen der amerikanischen und israelischen Regierungen. Und sie lügen, da die Interessen der westlichen Community mit ihren Werten kollidieren, dass sich die Balken biegen. Cassis, Baerbock, Wadephul, Blinken und Rubio und wie sie alle heissen, egal, welcher Couleur. In Abstimmung dazu assistieren die westlichen Medien dem Völkermord, indem sie uns die Bilder des real existierenden Elends vorenthalten. Trümmerlandschaften werden uns täglich vorgeführt, aber die beeindrucken uns längst nicht mehr. Den Anblick krepierender Kinder mit aufgeblähten Hungerbäuchen aber, der uns aufschrecken liesse, erspart man uns. Danke für gar nichts.

Wir würden die Bilder nicht aushalten. Würde man uns zeigen, was ist, wären wir auf der Strasse, aber subito. Weil uns das aber einiges an Mühe abfordern würde – denn es hätte weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen –, bevorzugt es auch das grosse internationale Publikum, nicht hinsehen zu müssen. Otto Normalverbraucher hält es lieber mit dem Eurovision Song Contest mit Israel als zweitem Sieger, israelischen Unternehmungen als Sponsoren, Israel als Image-Designer in eigener Sache (über die Verfilzung von ESC mit Israel schreibe ich nächste Woche an gleicher Stelle). All das erlaubt uns, dem Tiefschlaf zu frönen und die Mörder ihren Kindermord von Bethlehem ungestört vollbringen zu lassen.

Nur manchmal entweicht irgendwo eine verbale Entgleisung, und dann schreit männiglich Zeter und Mordio, natürlich nicht wegen der Sache, sondern weil einer nicht verstanden hat, was die Abmachung war. Anlässlich des ESC, der letzte Woche in Basel über viele Bühnen ging, machte beispielsweise jemand den Fehler, einen unbedarften Geist um seine Meinung zu fragen. Der Bieler Nemo, Vorjahressieger, äusserte sich, Israel hätte vom Wettbewerb ausgeschlossen werden sollen. Analog zu Russland, kann man anmerken, denn mit dem Ausschluss Russlands hatte sich die Mär vom unpolitischen Sängerwettstreit längst in Luft aufgelöst. Der ESC hat seine Unschuld längst verloren.

Oh je. Jetzt ging es los, das mediale Wetterleuchten. Der bekannte Publizist Markus Somm schalt Nemo einen Vollidioten (wörtlich) und Antisemiten. Nun kenne ich Herrn Nemo nicht persönlich und kann mir keine Aussagen über seine geistigen Kapazitäten erlauben. Von Herrn Somm haben wir dagegen bereits einiges gelesen, deshalb geht es in seinem Fall leichter. Wir halten dafür, dass der einzige Vollidiot in dieser Verlosung er selbst ist. Somm, der Medienprofi, weiss genau, wie unbedarft es ist, einen Unbedarften um Weltanschauungen zu befragen. Somm kennt auch den Unterschied zwischen Israelkritik und Antisemitismus. Aber wider besseres Wissen tut er so, als habe er nie davon gehört. Zeitgeistsurfend erlaubt er sich seine Ausfälligkeiten, um seiner Lust nachzugeben, mit der groben Keule draufzuhauen.

Somms Begründung für sein Nemo-Urteil lautet, er stehe auf der falschen Seite der Geschichte. Aha! Um auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ist also ein bisschen Geschichtsklitterung ok. Bisher ging ich von der Annahme aus, exakt hierin entscheide sich, wer auf der richtigen Seite steht… Wer so argumentiert, macht sich zum Mittäter. «Wer die Wahrheit nicht weiss, der ist bloss ein Dummkopf. Wer die Wahrheit aber weiss und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher», lässt Bert Brecht seinen Galilei sagen.

Unbestritten. Aber die Wahrheit muss sich erst durchsetzen, bevor wir die Verbrecher erkennen können. Das ist in Zeiten des medialen Mainstreams kaum mehr möglich. Deshalb gibt sich als Antisemit zum Abschuss frei, wer schreibt wie ich hier. Leider muss ich alle enttäuschen, die mich in der entsprechenden Schublade entsorgen wollen: Ich bin es nicht. Ich habe viele jüdische Freunde. Ich würde mich hüten, das Existenzrecht Israels in Zweifel zu ziehen. Ich bin Historiker und weiss, was Antisemitismus über Jahrhunderte angerichtet hat. Aber ich bin auch Demokrat und weiss, dass es Demokratie ohne die Freiheit der Meinung und der Meinungsäusserung nicht gibt. Und die Pflicht zu sagen, was Sache ist.

 
 
 

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