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Wahrheit und Wirklichkeit

Ferdinand von Schirach, 1965 geboren, ein kluger, überlegter, gebildeter Zeitgenosse, erfolgreich als Jurist und mehr noch als Schriftsteller (als solcher ist er in die Öffentlichkeit getreten), hat seinem neuesten Buch „Der stille Freund“ einen kurzen Text mit dem Titel „Wirklichkeit und Wahrheit“ eingeordnet. Es handelt sich nicht um eine Kurzgeschichte, denn sie hat keine Handlung, sondern eher um ein Statement, eine Feststellung, mit der er seine Leserschaft zum Nachdenken über das grausame Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 animieren möchte. 1100 Menschen wurden damals im israelischen Grenzgebiet zum Gazastreifen ermordet, 250 als Geiseln genommen. Mehr als 1500 Zeugenaussagen und 60‘000 Videos belegen das Grauen zweifelsfrei. Dennoch, entsetzt sich von Schirach, gebe es Menschen, die allen offenkundigen Beweisen keinen Glauben schenkten, sondern sie in die Nähe von Verschwörungstheorien rückten und den Palästinensern Sympathie und Solidarität bekundeten. Er kann das nicht verstehen und macht die sozialen Medien verantwortlich. In Anlehnung an ein Zitat aus Orwells „1984“ („Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der ein menschliches Gesicht zertrampelt – unaufhörlich“) kommt er zum Schluss: „Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.“

Hier verirrt sich Ferdinand von Schirach. Auch ein kluger, überlegter, gebildeter Zeitgenosse kann sich täuschen

Als Enkel von Baldur von Schirach nicht ohne persönliche Betroffenheit (denn der Grossvater war einst in der NSDAP Reichsjugendführer und Reichsstatthalter in Wien), begeht er denselben Fehler, dem heute alle Medien, nicht nur die sozialen, in der Kriegsberichterstattung unterliegen: Er lässt seine Darstellung mit dem Datum des Ereignisses beginnen.  Es ist der Irrtum, den die grossen Zeitungsverlage und die öffentlich-rechtlichen Medien – aber mit klar manipulativer Wirkung – begehen, wenn sie den Beginn des Ukrainekriegs auf den 24. Februar 2022 datieren. Mit andern Worten: Eine Vorgeschichte fand nicht statt. Die NATO-Osterweiterung – entgegen allen Versprechungen, welche bei der Wiedervereinigung Deutschlands gegeben worden waren –, die an Russland gerichtete Drohung, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, der von den USA mit 5 Milliarden Dollar unterstützte Putsch in Kiew 2014, die Verletzung aller legitimen Sicherheitsbedürfnisse Russlands – alles das gab es nicht. Ebenso wenig wie das Unrecht der Nakba, die über 100 Jahre andauernde Unterdrückung der Palästinenser durch den Zionismus, ihre systematische Drangsalierung seit der Staatsgründung Israels 1948, die seit Jahrzehnten stetig zunehmende Missachtung des Völkerrechts, der Landraub durch die Siedlungspolitik, die menschenverachtenden Terroraktionen des Mossad, der Völkermord im Rahmen der jüngsten Gaza-Krise – alles das hat es nie gegeben, wenn wir auf die verkürzte Faktenwiedergabe und das Framing der Medien vertrauen.

Natürlich gibt es keinen Zweifel, dass die Hamas sich am 7. Oktober eines gigantischen Verbrechens schuldig gemacht hat. Aber ist es denn verwunderlich, dass es Menschen gibt, die dem Lügenregime Netanjahus keine Silbe mehr abnehmen? Die, angesichts der auch vom offiziellen Israel nicht mehr bestrittenen Tatsache, dass sowohl die Geheimdienste wie auch die Regierung vom grauenhaften Geschehen Vorinformationen hatten (es aber geschehen liessen!), auf eine Mittäterschaft des faschistoiden Regimes von Benjamin Netanjahu und seiner Spezis zurück schliessen? Dass es Leute gibt, die für alle Beteuerungen des Westens nur noch Hohn und Spott übrig haben angesichts aller Lügen, die uns aus dieser Himmelsrichtung noch und noch aufgetischt werden?

Ja, es ist schwierig geworden, Wirklichkeit und Wahrheit miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Nicht nur, weil wir Wahrheit mit unseren Sinnen nicht erfassen können, wie seit Platons Höhlengleichnis bekannt ist, also seit 2500 Jahren. Natürlich hat das Christentum versucht, hierin Gegensteuer zu geben, indem es behauptete: Gott (und „das Wort“) seien die Wahrheit. Der Katholizismus setzte diesem Konstrukt noch die Krone auf, indem er – um die Reformation rückgängig zu machen – die gesamte katholische Tradition mit all ihren Ammenmärchen (Heiligenverehrung, Reliquienkult, Wallfahrtstourismus etc.) ebenfalls zur Quelle der Wahrheit erklärte.

So ein Schwachsinn. Es bedurfte Friedrich Nietzsches, der – endlich! – mit dem Hammer dazwischen fuhr, den Lukas haute (nicht nur den Evangelisten) und ein für allemal klarstellte: „Die Wahrheit ist eine Illusion, von der man vergessen hat, dass sie eine solche ist.“

Nie waren in der Menschheitsgeschichte den Fake-news Grenzen gesetzt. Man hat einfach die Lügen so oft wiederholt, bis sie geglaubt wurden – eine Strategie, die sich bis heute gehalten hat. Die Konstantinische Schenkung, mittels der die Kurie in Rom (im 8. Jahrhundert) in den Besitz des Weströmischen Reiches kam? Selbstverständlich eine Fälschung. Dass diese Jahrhunderte danach aufflog, änderte gar nix; die Lüge hatte sich eingenistet. Die Juden hätten die Brunnen vergiftet, als die Pest halb Europa im 14. Jahrhundert dahinraffte? Natürlich Fake-news, und zwar der lukrativsten Art, indem es den Christen plötzlich erlaubt war, mit den Juden auch ihre Geldschulden der zu massakrieren.

Fake-news, wohin man schaut. Es hat sich nichts geändert (es sei denn der Begriff: seit Trump darf man ja von alternativen Fakten sprechen). Und es sei denn, lieber Herr von Schirach, man konsultiere (aber kritisch!) die sozialen Medien. Dort wird zwar unendlich viel Schrott unter die Leute gebracht, aber auch viele Gedanken kluger Köpfe. Wo wäre sonst der Ort, wo sie der Zensur entgehen und dem Mainstream entgegen treten könnten? Wer hier auszuwählen versteht, wird die Wahrheit auch nicht ergründen. Aber er wird der Wirklichkeit einen Schritt näherkommen.

 
 
 

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