Gestern Freitag ging die dreiwöchige Frühjahrssession der Eidgenössischen Räte zu Ende. Es präsentierte sich das vertraute Bild, und dieses zeigt keine Sternstunde des Parlamentarismus. Über alle Themen und Traktanden liessen sich die National- und Ständeräte des Bürgerblocks von zwei Regungen leiten: Eigennutz geht vor Gemeinwohl und kurzfristig ist offensichtlich allemal attraktiver als langfristig. Bei der Covid-19-Debatte dominierte das Branchen- und Standesgefeilsche (mit dem üblichen Ergebnis, dass die Grossen, die sogenannt «Systemrelevanten», mit Geld gefüttert werden, während man die Kleinen mit Versprechungen bei Laune hält). In der Umwelt- und Landwirtschaftsthematik setzte sich die Agrarlobby wieder einmal durch und schrieb die Subventionierung unserer eigenen Umweltzerstörung fort. Und über allem schwebt seit dieser Session der Vorwurf der Diktatur, zum öffentlichen Erstaunen ausgerechnet vertreten von jener Seite – Aeschi, Glarner, Köppel und Konsorten –, die sich sonst für ihre besondere Loyalität zu unserem Staatswesen selbst hervorhebt (während gleichzeitig der Weltöffentlichkeit in Myanmar der Begriff der Diktatur höchst anschaulich vor Augen geführt wurde). Zusätzlich fand Frau Martullo in einem langen Interview mit der NZZ für die Volksrepublik China ausschliesslich lobende Worte. Welches genau ihr Verständnis von Diktatur ist, bleibt ihr Geheimnis.
Mit einer gewissen Ironie könnte man sagen: Unsere Parlamentarierinnen und Parlamentarier dürfen sich zu Recht Volksvertreter nennen. Sie verhalten sich genauso unbedarft, unverständig und klüngelhaft wie der Durchschnittsbürger am Stammtisch, wenn es diesen noch gäbe. Eine Hand wäscht die andere; jedes Sauhäfeli findet sein Saudeckeli. Stimmt die SVP gegen die Konzernverantwortungsinitiative, so revanchiert sich die FDP, indem sie in der Landwirtschaft für den Status quo optiert und den Kampf um die Ökologie einmal mehr auf die lange Bank schiebt. Die Mitte mäandert mal hierhin, mal dorthin; ihr Kompass sind nicht die Probleme, sondern die Wählerstimmen. Das gegenseitige Schulterklopfen der Bürgerlichen in der Wandelhalle nach den Schlussabstimmungen widerspiegelt den Zustand unseres Parlamentarismus’. Die Kohlen aus dem Feuer zu holen – wie in der Pandemie –, überlässt man dem Bundesrat, um dann, wenn er sich dem Druck der Strasse nicht beugt, umso heftiger mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Während, wie jüngste Umfragen erstaunlicherweise belegen, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik des Bundesrates wieder zunimmt, ist der Graben zwischen Bundesrat und dem Bürgerblock so tief wie selten. Was läuft falsch?
Man muss nicht Raucher sein, um zu wissen, wie schwierig es ist, allen Impulsen kurzfristiger Lustbefriedigung nachzugeben. Aber für bürgerliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier scheint es noch schwieriger zu sein als für uns alle im Alltag. Vernünftig zu handeln hiesse, sich auf der Basis von evidenten Gegebenheiten für den langfristigen Nutzen des Gemeinwohls zu entscheiden. Dafür haben wir unsere Räte gewählt. «Handle so, dass die Maximen deines Willens jederzeit als Grundlagen einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnten.» Der Kant’sche Kategorische Imperativ sollte für niemanden verbindlicher sein als für Parlamentarier. Das Gegenteil ist aber der Fall. Interessensgeschacher hier, buhlen um Öffentlichkeit dort, schielen auf Verwaltungsratsmandate überall…
Vernunft fällt schwer, weil sie anstrengend ist. Impulsen nachzugeben, ist einfach; sie zu kontrollieren, ist ein Krampf. Wenn es aber nicht nur darum geht, individuell die Impulskontrolle zu wahren, sondern wenn der Einzelne nicht für sich alleine entscheiden kann, wenn er eingebunden ist in Interessensstrukturen, dann braucht es nicht nur Entschlossenheit, dann braucht es auch noch den Willen, sich gegen Allianzen zu stemmen oder Seilschaften zu kappen. Dann braucht es Mut.
Das System der Verflechtungen zwischen der Wirtschaft und der Politik heisst Lobbyismus, der Sargnagel der Demokratie. Lobbyismus ist – für sich alleine genommen – zu einem eigenen Wirtschaftszweig geworden. Wie immer, wenn es um Erscheinungsformen des Turbokapitalismus geht, stehen die USA an vorderster Stelle. Wurden in Amerika 1998 (Präsident Bill Clinton) noch 1,5 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit ausgegeben, so waren es 2020 (Präsident Donald Trump, der es zu einem seiner Wahlkampfthemen gemacht hatte, den «Sumpf trocken zu legen») 3,5 Milliarden. Das heisst: 3500 Millionen Dollar wurden letztes Jahr von der Wirtschaft dafür ausgegeben, dass Politiker in ihrem Sinn Gesetze geben. Übergänge zur Korruption sind fliessend, wie jüngste Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland zeigen. In der überwiegenden Mehrheit aller Fälle sind es Politiker aus bürgerlichen Parteien, die sich Verfehlungen zuschulden kommen lassen – nicht weil sie per se schlechtere Menschen wären, sondern weil dort die Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik enger sind und weil es um grössere Projekte geht, in welchen mehr Geld fliesst.
In der Schweiz gibt es ein paar Lobbys, die immer wieder im politischen Diskurs auftauchen: die Agrarlobby, die Gesundheitslobby, die Rüstungslobby, die Baulobbys in vielen Kantonen… Gleichzeitig sind bei uns die gesetzlichen Auflagen betreffend Offenlegung aller Lobbybindungen unserer Parlamen-tarierinnen und Parlamentarier minimal. Die Bereitschaft, hieran etwas zu ändern, wäre gerade für bürgerliche Politiker ein bestens geeignetes Thema, ihren Mut zu beweisen. Es liessen sich auf diesem Weg mehr Wählerstimmen erschliessen als in den alten Seilschaften. Es wäre der Weg zurück in einen Parlamentarismus, der seiner Idee gerecht würde.
Comentarios