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Neoliberale Gutenachtgedanken

Aktualisiert: 19. Sept.

Würde es unsere heutige Situation betreffen, so hätte sich Heinrich Heine, der alte Spötter, die Reisestrapazen schenken können; 1844 waren sie ja nicht gering. Heine, unterwegs von seiner Wahlheimat Paris nach dem Land seiner Herkunft, schrieb in seine Neuen Gedichte: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“

Heute verstehen wir ihn besser als je. Aber dazu kommt, dass uns nicht nur die Zustände in Deutschland den Schlaf rauben, sondern auch jene in Frankreich. Um Anschauungsunterricht im politischen Desaster zu gewinnen, könnte Heine heute getrost im aufmüpfigen Frankreich bleiben, bei seinen petites saloppes, statt das alte Mütterlein in der Heimat zu besuchen. Denk ich an Frankreich in der Nacht, bin ich ebenso um den Schlaf gebracht.

Die Grande Nation galoppiert ihrer Götterdämmerung entgegen. Fünf Premierminister haben Präsident Macron und die französische Classe politique verbrannt, seit der Reclam-Napoleon 2022 wiedergewählt wurde. Das muss ihnen erst einmal einer nachmachen; die Italiener kriegen es nicht mehr hin. Die Schuldenlast beträgt deutlich mehr als 3 Billionen Euro (3000 Milliarden…) und sie vermehrt sich durch die Zinslast um 5000 Euro pro Sekunde (eine Zahl, die der scheidende Ministerpräsident Bayrou in seiner Abschiedsrede der Nation ins Bewusstsein rief). Frankreichs Defizit – gemessen am BIP – beträgt 6 Prozent; die EU würde exakt die Hälfte erlauben, wenn sie ihre eigenen Satzungen ernst nähme. In absoluten Zahlen gibt das Land im laufenden Jahr 170 Milliarden mehr aus, als es einnimmt. Bayrous politischer Kampf ging dahin, den Staatshaushalt um 44 Milliarden zu entlasten und im Zuge dieser Massnahmen seinen Compatriotes zwei Feiertage zu streichen. Nichts könnte aussichtsloser sein. Die Franzosen sind sich der Kalamitäten zwar bewusst, aber sie finden: Sparen? Gerne, aber bei den andern. Der Staat ist meine Vollkasko.

Frankreichs Schuldenquote wird im nächsten Jahr 120 Prozent des BIP betragen. Das ist ziemlich genau der Wert, den Griechenland vor Beginn der Sanierungsmassnahmen, des EU-Befehls zur Aushungerung des Staatswesens, im Jahr 2010 erreicht hatte. Die Griechen hatten das Pech, dass sie in der EU nicht das Gewicht erreichten, das in der Bankenwelt mit „to big to fail“ umschrieben wird – im Unterschied zu Frankreich. Die EU kann Frankreich nicht fallen lassen. Die Lösung wird eine europäische Solidarhaftung sein. Friedrich Merz, bitte übernehmen sie.

Frankreich ist so unreformierbar wie sein Präsident, der in der Verzweiflung nach jedem Strohhalm greift, der sein Land retten könnte – mit Ausnahme desjenigen, der in der Tat Rettung verspräche: der eigene Rücktritt mit anschliessenden Neuwahlen. Macron, den neoliberalen Denkfabriken des WEF entsprungen, hat durch seine Begünstigung der Begünstigsten Frankreich in den Strudel gezogen. Denn – warum sagt es ihm keiner? – Frankreich besteht nicht nur aus dem Pariser Grosskapital, sondern aus der Provinz, aus den Banlieues, aus Menschen, die keine Arbeit haben – und wenn doch, dann sind sie auf den Privatverkehr angewiesen, damit sie überhaupt zur Arbeit kommen. Denn der öffentliche Nahverkehr taugt nichts. Die Menschen brauchen Benzin und Diesel.

Exakt die anvisierte Mehr-Besteuerung dieser Treibstoffe 2018 hat die Gilets jaunes auf den Plan gerufen. Macron hatte in seiner sozialen Ahnungslosigkeit die dümmstmögliche Politik gewählt. Verteuert den Franzosen den Diesel, nehmt ihnen den Käse und den Rotwein! Dann stehen die Lastwagen und die Traktoren auf der Autobahn, und zwar quer. Rien ne va plus oder, aktuell: Bloquons tout. Die soziale Wut eskaliert, die Explosion rückt näher, je hoffnungsloser die Krisen – Finanzen, Migration – werden.

Das ist der Fluch der guten Tat. Hat eine Nation einmal Revolution gemacht und damit die Erfahrung, dass dies in einem unreformierbaren Staat der einzige Weg zum Fortschritt ist, so wird sie es immer wieder tun. 1789 erarbeitete man die Blaupause. 1830 kam die Julirevolution dazu, von liberalem Geist beseelt. 1848 jene im März, bereits mit sozialistischen Ideen. 1871 scheiterte der radikalste Versuch, die „Commune“, nur an den tumben Teutschen, die eben die Franzosen (im Preussisch-Französischen Krieg) besiegt und deren Armee entwaffnet hatten und im Begriff waren, Paris durch Aushungerung in die Knie zu zwingen – als die deutsche Heeresführung auf Geheiss Bismarcks der Grande armée die Waffen zurückgab, damit sie die sozialistische Revolution wegputzen konnte. Neoliberalismus avant la lettre.

Inzwischen hat Macron den nächsten Premierminister aus dem Hut gezaubert: Sébastien Lecornu, gewesener Verteidigungsminister, von der gleichen Couleur wie sein Chef. Weshalb tut sich jemand dieses Himmelfahrtskommando an? Weshalb hat er den Ehrgeiz, à tout prix der deutschen Übersetzung seines Namens gerecht zu werden („der Gehörnte“)? Möglicherweise, weil seine und Macrons Spekulation in die Richtung geht, wiederum könnte Deutschland zum Rettungsengel werden. Von einer möglichen Solidarhaftung der EU (in Form von Eurobonds, dem nächsten neoliberalen Projekt) war bereits die Rede. Kein Zweifel, dass sich der deutsche BlackRock-Kanzler Merz, der mit nichts so grosszügig um sich wirft wie mit neuen Schulden, dafür gewinnen liesse. Denn das wäre die einzige Möglichkeit, das ultimativste aller neoliberalen Projekte weiter zu bewirtschaften, den Krieg in der Ukraine. Nichts würde den Systemerhalt sicherer garantieren. Wohin man schaut, zeigt sich dasselbe Bild: bis über alle Ohren verschuldete Staaten, bis zur Selbstverleugnung sich manifestierende Demokratiedefizite, bis zum Sozialkollaps sich anhäufende Migrationsprobleme. Da hilft nur ein äusserer Feind.

Ergo: Weiter so. Oder auf Französisch: après moi le déluge…! und auf Deutsch: nach mir die Sintflut…! Und frei nach Heinrich Heine: Denk ich an Europa in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.

 
 
 

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