Pünktlich zum Nationalfeiertag meldet sich die Krise zurück. Kaum hatten wir begonnen, uns langsam in Sicherheit zu wiegen, schrauben sich die nationalen Fallzahlen wieder in besorgniserregende Höhen. Jetzt, wo feststeht, dass wir uns einen neuerlichen Lockdown nicht leisten können, vermiest uns Corona die Party. Der diesjährige 1. August ist kein Nationalfeiertag, sondern ein Nationaltag ohne Feier. Wer seinen Kindern das Phänomen Eidgenossenschaft näherbringen will, kann sich für einmal nicht dadurch entlasten, dass er als familieneigener Sprengmeister aus dem Vorgarten Batterien von Luftheulern in den Nacht-himmel jagt. Dieses Jahr braucht es mehr; mit Knallfröschen kommen wir nicht durch. Die Krise stellt uns vor die Sinnfrage.
Referenzgrösse für jedes Nachdenken über den Sinn unseres nationalen Verbundes ist, wie immer am 1. August, Schillers Schauspiel „Wilhelm Tell“. Es ist in der Schweiz das meist missverstandene Stück der deutschen Literatur, weil wir immer meinen, mit den Helden um Tell, Stauffacher und Konsorten habe Schiller ein Abbild von uns Schweizern geschaffen. Weit gefehlt! Schiller hat die Schweiz nie gesehen, und hätte er die Schweizer erlebt, dann hätte er seinen Idealismus wohl etwas weniger dick aufgetragen. Aber gerade indem es uns über Jahrzehnte so geschmeichelt hat, auf der Bühne oder in den 1.-August-Reden vorgeführt zu sehen, wie gut wir das Leben meistern, wie perfekt bei uns alles klappt, wie verschont wir geblieben sind, so haben wir selbst eine hohe Messlatte an uns angelegt. Jetzt, in der Krise, stellen uns die schiller’schen Ideale unversehens auf die Probe: Können wir, Kleingeister des 21. Jahrhunderts, den hohen Zielvorgaben des Stücks auch nur im Entferntesten standhalten?
«Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr», so lässt Schiller seinen Pfarrer Rösselmann den Rütlischwur ausbringen. In aktuellerem Deutsch heisst das nichts anderes als: «Gerade in der Krise ist Solidarität gefragt». Not und Gefahr waren lange keine in Sicht, da liess es sich leicht idealistisch daher schwatzen. Generationenlang gab es keinen 1. August, der uns herausgefordert hätte. Jetzt, in der Krise, sind wir ratlos. Jetzt, wo Selbstdisziplin gefragt wäre, sollen alle anderen damit anfangen: Die Partygänger sollen auf die Party verzichten, die Serbischstämmigen auf die Sommerfrische bei den Grossmüttern, und die Quarantänepflichtigen wollen keine Ferientage für ihren Hausarrest hergeben. Dafür stehen wir alle in Bundesbern an und machen die hohle Hand. Die Kantone und der Bund schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu und alle haben Angst, sich aus dem Fenster zu lehnen, was heissen würde: für einen Entscheid gerade zu stehen.
Was viele nicht wissen (da die meisten den «Tell» nicht gelesen haben und von der ganzen Story nur die Sache mit dem Hut und dem Apfelschuss kennen): Der eigentliche Sinn des Stücks liegt keineswegs bei der Unabhängigkeit der Eidgenossen von den Habsburgern, sondern darin, dass ein mit allen Stärken und Tugenden ausgestatteter Einzelgänger – Wilhelm Tell –, der aber mit keiner politischen Idee etwas zu tun haben will, der sich der Gemeinschaft entzieht und den Rütlischwur schwänzt, durch Not zur Einsicht gezwungen wird, dass gerade er sich einordnen und im Dienste der Gesellschaft seinen Teil übernehmen muss. Für manche, die nicht so mutig und keine Meisterschützen sind, wird der Beitrag gering sein, für die Starken muss er ihrem Vermögen entsprechen. Alle aber stehen in der Pflicht, sich zu ihrer persönlichen Verantwortung zu bekennen und gerade nicht den Anfang allen anderen zu überlassen.
So könnte es gehen, und nur so!
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