Achtzig Prozent des Erfolgs aller Lockdown-Massnahmen in Deutschland seien den Fernsehbildern aus Norditalien zu verdanken, sagte jüngst der deutsche Virologe und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach in einem TV-Talk. Der Schrecken, den die Bilder von ohnmächtig an ihren Schläuchen hängenden Menschen, verzweifeltem Spitalpersonal und nächtlichen Leichenkonvois frei Haus lieferten, sass tief. Ohne Experte zu sein, wird man dem angegebenen Wert bedenkenlos auch in Bezug auf die Schweiz zustimmen können.
Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die bei uns vom Bundesrat noch und noch gelobte Disziplin weitester Bevölkerungsteile kein Produkt von Einsicht und Rationalität ist, sondern der Angst geschuldet – „Le salaire de la peur“, um es mit einem Filmtitel aus den 50er-Jahren zu sagen. Tatsächlich ist nicht zu bestreiten, dass Angst in manchen Fällen ein kluger Ratgeber sein kann.
In der aktuellen Phase sinkender Fallzahlen und der Lockerung des bundesrätlichen Zwangsregimes wird an allen Ecken und Enden spürbar, wie uns die Angst abhanden kommt. Gut so, wird man trotz allem sagen. Die Frage ist nur, ob wir die nach wie vor erforderliche Disziplin aufrechterhalten können, wenn die Angst als intrinsischer Motivationsfaktor entfällt. Zweifel sind angebracht, denn jetzt verlagert sich die Stimmungslage vieler Menschen auf ein Feld, wo nicht Disziplin die Folge der Emotion ist, sondern ein mentaler Kontrollverlust: das weite Feld der Verschwörungstheorien.
Es ist kaum zu fassen, was auf den sozialen Medien derzeit alles die Runde macht, immer unter der Prämisse, dass dunkle Mächte sich untereinander verschworen hätten, die Welt aus den Angeln zu heben: Bill Gates wolle einen Impfterrorismus erzwingen, um die Weltbevölkerung zu dezimieren. Angela Merkel wolle die Migration beschleunigen und lasse nächtlich Flugzeuge mit Asylsuchenden einfliegen. Die amerikanischen Demokraten hätten das Virus ausgeheckt, damit Trump die Wiederwahl nicht schaffe – so tönt das noch und noch. Und vor allem erschüttert, dass uns entsprechende Links auch von Bekannten zugepostet werden, die wir eigentlich zu den Vernünftigen zählten.
Woher kommt die neue Irrationalität, der Hexenglauben der Moderne? Die Aufklärung sei gescheitert, war das ernüchternde Fazit, das Max Frisch an seinem 75. Geburtstag zog, 1986. Die 80er-Jahre waren das Jahrzehnt, als mit den Regierungen von Ronald Reagan in den USA und von Margreth Thatcher in Grossbritannien der Neoliberalismus als ökonomisches Konzept neu lanciert wurde. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 gilt er quasi als alternativlos; er startete seither in einer Art und Weise durch, dass gar „Das Ende der Geschichte“ ausgerufen wurde (Francis Fukuyama). Die Doktrin besagt, dass sich der Staat aus allen Bereichen zurückziehen müsse, wo sich Geld verdienen lasse (Gesundheit, Bildung, Strafvollzug, Infrastruktur), sodass die ökonomische Elite, die Megakonzerne und die Superreichen, in die entsprechenden Felder investieren und mit den gewonnenen Mitteln die Wirtschaft ankurbeln könne. „Tickle down“, wird als Idee kolportiert. Wörtlich heisst das: Der Wohlstand wird durch alle Schichten hindurchträufeln und den Boden der Gesellschaft erreichen. Was seither tatsächlich eingetroffen ist, ist aber das pure Gegenteil: Die Superreichen sind noch superreicher geworden und die Welt gehorcht den Weltkonzernen.
Die Globalisierung hat viele Profiteure, aber unendlich viel mehr Verlierer geschaffen. Es ist deren Frustration, die sich jetzt entlädt, abgelenkt auf das Corona-Virus und seine Folgen. Die hier angedeuteten ökonomischen Prozesse sind weitgehend abstrakt geblieben, fast unsichtbar für die, die sich über den Mainstream informieren. Sie geben kein konkretes Feindbild her für die Enttäuschten aller Länder, die sich jetzt vereinigen in den Filterblasen der Verschwörungstheorien. Dort stellen sie garantiert keine Gefahr für die Profiteure des Neoliberalismus dar, wohl aber für Grundlage jeglicher demokratischen Gesellschaft, die Vernunft auf der Basis ethischer Grundwerte.
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