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Liebe Genossinnen und Genossen

Die folgenden Zeilen schreibt einer, der Zeit seines Lebens sozialdemokratisch gedacht, empfunden, gewählt und abgestimmt hat – und der jetzt unversehens vor der Frage steht, warum das plötzlich nicht mehr geht. Ich halte dafür, dass es nicht an mir liegt. Mein Gerechtigkeitsempfinden ist unverändert, ebenso meine Empörung, dass eine anständigere Verteilung der Güter mal für mal misslingt, obwohl sämtliche Parteien immer wieder gegenteilige Beteuerungen abgeben. Aber Lippenbekenntnisse sind bekanntlich wohlfeil, um nicht zu sagen: gratis. Anders als die Krankenkassenprämien. Ein Viertel aller Schweizerinnen und Schweizer können sie nur mit staatlicher Bezuschussung bezahlen. Auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums besitzen die 300 reichsten Schweizer Familien 850 Milliarden Franken. Diese Summe ist gleich hoch wie unser BIP, also die Gesamtleistung schweizerischer Arbeit während eines Jahres. Und die Schere öffnet sich weiter.

Ich will nicht behaupten, dass die Sozialdemokratische Partei der Schweiz vergessen habe, sich um solche Fragen zu kümmern. Aber was ich derzeit als Hauptaktivität der SP-Spitze beobachte, ist Aussenpolitik – und zwar eine sinnwidrige und identitätsferne. Und überdies verknüpfen die Genossen mit der gernegrossen Internationale fatale Fehleinstellungen in der Innenpolitik. Gemeint ist das unsinnige Volle-Kraft-Voraus-Gebaren zur vertieften Assoziierung der Schweiz mit der EU (Bilaterale III).

Welcher Sozialdemokrat versteht das? Gibt es in der Parteileitung niemanden, der in der Lage wäre zu erkennen, was für ein durch und durch verkommener Haufen diese EU ist? Ein in Brüssel liegender Bürokratiemoloch, korrupt im Ganzen und in den Teilen, der die Meinungfreiheit beschneidet, wo immer es geht. Eine Präsidentin, die sich in ihrem elitären Zirkel abschottet, die regelmässig E-Mails und SMS verschwinden lässt, sobald es unangenehm wird. Eine Aussenbeauftragte, die unter einer krankhaften Russophobie leidet und im Verdacht massiver Korruption steht. Warum, um alles in der Welt, will die SP, dass wir uns mit diesem Monstrum ins Bett legen um den Preis der «dynamischen» Rechtsübernahme und der Akzeptanz fremder Richter? Weshalb verscherbelt ausgerechnet die Sozialdemokratie unsere Werte ohne Not? Liegt das im Interesse schweizerischer Arbeiternehmerinnen und -nehmer? Es ist mit Händen zu greifen, dass die Schweiz durch Unterzeichnung des Abkommens alle Probleme der EU importieren und erst noch massiv zur Kasse gebeten würde, zumal deren Finanzfiasko angesichts der Entwicklungen in der Ukraine absehbar ist.

Exakt dort haben alle Fehleinstellungen ihren Anfang genommen. Vorbehaltlos hat sich die SP vor bald vier Jahren hinter das von Russland angegriffene Land gestellt. Die Solidarität mit den Ukrainerinnen und Ukrainern war nobel, aber die Positionierung in der politischen Grosswetterlage voreilig. Wohl war es im Februar 2022 schwierig deren Wolkenbilder zu deuten. Aber seither gab es viele Aufhellungen, und wer nicht blind ist, erkannte bald, dass sich die Schuldfrage im Ukraine-Krieg deutlich differenzierter präsentiert, als sie von der Öffentlichkeit rezipiert worden ist. Das grosse Versagen der SP-Führung liegt darin, dass man den Mut nicht fand, den ursprünglichen Positionsbezug zu korrigieren. Der Teufel heisst Putin, unverändert. Wäre nicht etwas mehr historische Redlichkeit angesagt?

Ja, Putin hat die Ukraine angegriffen und einen schweren Verstoss gegen das Völkerrecht begangen. Wer aber über eine differenzierte Geschichtsbetrachtung verfügt, konnte nach dem ersten Pulverdampf erkennen, dass es nie zu diesem Krieg gekommen wäre, hätte sich die NATO nicht, entgegen allen Versprechungen, immer weiter nach Osten vorgeschoben, bis hin zur (unredlichen!) Einladung an die Ukraine und zum amerikanischen Maidan-Putsch 2014. Entsprach der etwa dem Völkerrecht? Wer Augen hat zu sehen, weiss, dass die Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen an der russischen Grenze für Russland inakzeptabel war. Diese anzustreben, hiess den Krieg zu provozieren. Die SP, die in ihrer Tradition immer kritisch gegen den US-Imperialismus eingestellt war, hätte erkennen müssen, dass dieser sich in neuem Gewand präsentierte. Stattdessen machte sie alle Fehler mit, die im faktischen Verschmelzungsprozess von EU und NATO folgten. Aufrüstung, Aufrüstung, Aufrüstung, und der Fähnrich war die SP. Sie schwenkte aber nicht das Schweizerkreuz, sondern die EU-Flagge. Aus Mangel an Mut setzte man sich ins Boot zu den anderen sozialdemokratischen Parteien (west-)europäischer Staaten, aber ohne Not, weil man in keine Koalitionen von Kriegshetzern eingebunden ist, die mit sozialdemokratischen Ideen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Unversehens fand sich die SP Schweiz auf dem Galeeren-Ruderbänklein neoliberaler Regierungschefs, die nur die Börsenkurse der Waffenindustrie im Blick haben. Was, bitteschön, verbindet die SPS mit Merz, Macron, Starmer und Tusk? Die Angst vor dem gesellschaftlichen Rechtsdrall und dem Brandmauer-Palaver in Deutschland machte die europäische Sozialdemokratie – und mit ihr jene der Schweiz – blind dafür, dass er nichts anderes ist als die Konsequenz des eigenen politischen Versagens.

Dieser Mechanismus hat die Schweiz dazu geführt, alle Sanktionspakete gegen Russland zu übernehmen und die Neutralität mehr oder weniger aufzugeben. Dass die Bürgerlichen sich so positionierten, war schlimm und dumm genug. Aber dass sich die schweizerische Sozialdemokratie in dieser Verknüpfung von Aussen- und Innenpolitik dergestalt an die EU anbiederte, kommt einem Verstoss gegen ihre eigenen Wurzeln und die eigene Identität gleich.

Frau von der Leyen hat kein Kaffeekränzchen der Scharfmacher ausgelassen und die De-facto-Überlagerung von EU und NATO gepusht, wo es ging. Immer mit Zustimmung der Sozaldemokratie. Jetzt, endlich, liegt ein Friedenspapier amerikanischer Herkunft auf dem Tisch, in dem es zwar mehr um Deals geht als um Frieden – aber doch auch um Frieden. Und was tut unsere SP? Sie steht weiterhin auf der Seite der Scharfmacher und hintertreibt dafür sogar im Zollstreit mit den USA mögliche Lösungen.

Die SPS hat sich auf ein Terrain verirrt, das für sie terra incognita ist. Dabei gäbe es Vorbilder. Robert Grimm, SP-Präsident während des Ersten Weltkriegs, wusste, wie Aussenpolitik geht. Für ihn wäre es nie in Frage gekommen, mit den Wölfen zu heulen wie seine Eigenen.

 
 
 

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