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Drehen an der grossen Eskalationsspirale

Längst hat der Ukraine-Krieg von unserem Alltag Besitz ergriffen. Die täglichen Nachrichten vom Kampf um den Donbass oder Bachmut, von Drohnenangriffen auf Kiew oder auf Moskau erschrecken uns nicht mehr. Soldaten sterben, Zivilisten auch, die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Was will man machen! Wir sind abgestumpft. Der Mensch in seiner Schwäche lässt das Unsägliche nicht an sich herankommen. Das ist fatal, weil es von den Falken in diesem Krieg dazu genutzt wird, im Windschatten unserer Indifferenz brandgefährliche Eskalationen herbeizuführen.

Die Medien, deren Aufgabe es wäre, uns wachzuhalten und unsere Meinung zu schärfen, lassen uns im Stich. Schlimmer noch: Wo es sich um die grossen, den Mainstream abdeckende Medienorgane handelt, deren Verleger alle in irgendwelche transatlantischen Netzwerke eingebunden sind, unterstützen sie die amerikanischen Kriegstreiber, schieben die Aggression der anderen Seite zu und verkaufen uns ihre Schwarz-Weiss-Botschaft als gesicherte Erkenntnis.

Ein Beispiel aus der NZZ vom Mittwoch der laufenden Woche: Der Aufsatz eines neokonservativen Scharfmachers namens Eliot A. Cohen, ursprünglich in der Zeitschrift «The Atlantic» erschienen, wird unkommentiert und in voller Länge abgedruckt (ins Deutsche übersetzt). Unkommentiert heisst: Kein Auslandsredaktor der NZZ hält es für nötig, Eliots haarsträubende Thesen einzuordnen und zu relativieren. Der Text wird dem Publikum als ernsthafter Beitrag unterbreitet.

Cohens Text ist übertitelt mit «Der Schlüssel zum Sieg in der Ukraine ist der Mut». Inhalt: USA und NATO sollen Russland nicht einfach nur besiegen, sondern sie sollen Russland vernichten. Der Ukraine müsse es schaffen, schreibt Cohen, dass «russische Soldaten massenhaft fliehen, desertieren, Offiziere erschiessen, gefangen genommen werden oder umkommen. Die russische Niederlage muss in ein unmissverständlich grosses, blutiges Durcheinander münden.» Um das zu erreichen, sollte der Westen «mit äusserster Dringlichkeit alles bereitstellen, was die Ukraine benötigt, einschliesslich Langstreckenraketen sowie Streumunition, welche russische Kampffahrzeugverbände und Infanterie zu vernichten imstande ist.»

Geht’s noch? Die NZZ legitimiert durch ihr redaktionelles Placet, dass der Einsatz von Streumunition empfohlen wird, die nach dem Humanitären Völkerrecht und dem Internationalen Rüstungskontrollrecht verboten ist? Die NZZ druckt unwidersprochen ab, dass zu einem «grossen blutigen Durcheinander» aufgerufen wird? Ist das die Fortsetzung der Politik mit medialen Mitteln? Oder gilt das Verbot solcher Waffen nicht, solange es sich bei den Opfern um Russen handelt, weil offenbar nur tote Russen gute Russen sind?

Aber wir sind noch nicht fertig. Cohen: «Russlands Armee zu besiegen, ohne das Blut eines einzigen amerikanischen Soldaten zu besiegen, wäre ein erstaunliches strategisches Schnäppchen.» In der Tat: so smart! Statt amerikanischer Soldaten verheizen wir einfach die ukrainischen, bis es keine mehr gibt. Dann allerdings «sollten wir im Westen darüber nachdenken, wie wir die ukrainischen Streitkräfte wiederaufbauen wollen.» Damit das alles öffentlich nicht so auffällt, «sollte der Westen eine entschlossene Informationskampagne fahren.»

Mit anderen Worten: Die westlichen Medien müssen die westliche Bevölkerung soweit indoktrinieren, dass die Demütigung Russlands unter Inkaufnahme von Hunderttausenden von Opfern nicht auf allzu starken gesellschaftlichen Widerstand stösst. All das, führt Cohen seinen Irrwitz unbeirrt zum Ende, brauche natürlich etwas Mut. «Wir müssen unsere Ängste vor den Drohungen und Eskalationen des Kremls, vor der russischen nuklearen Anmassung und vor einem Zusammenbruch Russlands überwinden.» Ok, wir haben verstanden. Machen wir sie platt, ein für alle Mal.

Um es noch einmal zu unterstreichen: All das steht in der NZZ vom Mittwoch, 31. Mai 2023. Es ist eine Schande. Aber das Schlimmste vom Ganzen ist leider, dass es sich hierbei nicht um eine einmalige Entgleisung eines amerikanischen Irren und eines unbedachten Redaktors in einem Büro der NZZ handelt, sondern dass hier eine politische Haltung wiedergegeben wird, die im amerikanischen Aussen- und Verteidigungsministerium mehr und mehr um sich greift. Und damit natürlich auch auf Europa ausstrahlt.

In den USA gibt es eine ganze Reihe von Exponenten des politischen Establishments, die sich dieser Tage einen Sport daraus machen, öffentliche Statements von sich zu geben, deren Funktion alleine darin besteht, eine diplomatische Lösung zu verunmöglichen. Beispielsweise wird in London und Washington neuerdings laut gefordert, die sollte Ukraine sollte ermächtigt werden, bereits gelieferte Langstreckenraketen «tief im russischen Hinterland» einzusetzen. Senator Lindsey Graham (Republikaner aus South Carolina) war am vergangenen Sonntag in Kiew bei Selenskyj zu Besuch und sagte: «Russland wird sterben. Besser haben wir unser Geld nie ausgegeben.» Victoria Nuland, Staatssekretärin im Aussenministerium, ergänzte, ebenfalls vor wenigen Tagen: «Wir haben zusammen mit Kiew die Gegenoffensive ausgearbeitet und wir planen gemeinsam die Zukunft der Ukraine.» Wie wenn sie es darauf angelegt hätte, das diplomatische Tabu zu brechen, dass USA und NATO zwar Waffen lieferten, darüber hinaus aber keine aktive Rolle spielen würden. Nuland provoziert ganz bewusst, indem sie ausspricht, was zwar alle wissen, was aber kein verantwortungsvoller Politiker sagen dürfte: dass die USA mit Russland im Krieg sind.

All das ist der tägliche Wahnsinn, der sich vor unseren Augen abspielt, ohne dass wir es wahrnehmen – weil unsere Medien ihrer Informationspflicht nicht nachkommen. Deren Beteiligung an der grossen Eskalationsspirale ist eine der wesentlichen Einsichten über das Wesen unserer Demokratie, die wir angeblich in der Ukraine verteidigen.

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