Hauptkommissar Frank Thiel und Professor Karl-Friedrich Börne waren angesagt am letzten Sonntagabend als die «Tatort»-Kommissare der Stunde. Ein Grund, diesem Krimiformat wieder einmal eine Chance zu geben! Zurecht, wie sich zeigen sollte. Die Pathologen-Community um Zwergin Alberich hat bestanden. Weniger wegen des diesmal zurückhaltend aufgesetzten Ulks, sondern wegen des Milieus, in dem die neueste Folge spielte: Das Milieu der Influencerinnen. Denn so war dieses in der Unterhaltungsfiction bisher noch nicht gezeigt worden. Die unkundigen älteren Semester wurden staunenden Auges in eine neue Welt entrückt, in die Welt der verlorenen Gewissheit.
Nichts gibt es da, was wahr ist. Fake toppt Fake und Wahrheit wird zur Lüge. Dafür nehmen wir die Lüge als neue Wahrheit, denn ohne sie können wir nicht leben. Also akzeptiert der in diese Welt Eintauchende den vorgegaukelten Schein als höhere Realität. Abstürze aus grosser Fallhöhe sind unvermeidbar, Mord und Totschlag eine logische Folge. Jeglicher moralische Kodex («Du sollst nicht lügen») verkommt zum Versatzstück einer Welt von gestern. Der «Untergang des Abendlandes», von Oswald Spengler vor 100 Jahren angekündigt – jetzt ist er da. Nicht die Islamisten haben ihn herbeigeführt, nicht die Chinesen, nicht Putin, nein, er ist hausgemacht: hervorgerufen durch von uns selbst in die Welt gesetzte Technologien, die sich verselbständigt haben. Zauberlehrlinge sind wir, denen die Kontrolle über die zu Hilfe gerufenen Geister abhandengekommen ist.
Allerdings stellt sich die Frage, wie weit wir auf diesem Weg in den Abgrund schon vorangeschritten seien? Hat der Krimi die Verhältnisse realitätsnah geschildert oder war alles nur Klamauk und Satire?
Wir müssen feststellen: Wer sich täglich durch die Presse ackert, gewinnt zunehmend den Eindruck, die reale Welt halte derjenigen des «Tatort» problemlos stand. Die Aussage, im Krieg sei das erste Opfer die Wahrheit, hat im Zeitalter von Virtualität, Fake-news und alternativen Fakten eine neue Qualität erhalten. Der Propagandakrieg, in den sich die russischen, die chinesischen und die westlichen Medien hineingesteigert haben, ist ein täglicher Upgrade aus Absurdistan. Dazu gehört, dass die Medien des jeweils eigenen Blockes behaupten, einzig und allein sie verkündeten die lautere Wahrheit. Ein Narr, wer glaubt, die westlichen, von NZZ bis ZDF, würden dabei eine Ausnahme machen.
Vor drei Wochen hat der seit Jahrzehnten verdiente Enthüllungsjournalist Seymour Hersh in einer schlüssigen Expertise den Nachweis erbracht, es seien amerikanische Geheimdienste gewesen, welche die für Amerika offenbar inakzeptable Gaspipeline Nordstream-2 gesprengt hätten. Das war nicht nur gut recherchiert, sondern auch inhaltlich plausibel (denn auch Hauptkommissar Thiel fahndet nach den Tätern, indem man nach den Motiven fragt). Aber natürlich konnten die USA diesen Vorwurf nicht stehen lassen. Stündlich wartete man auf die mediale Petarde, mit welcher der Text von Hersh vernebelt würde. Und siehe da, gestern wurde sie gezündet. «Laut Recherchen mehrerer deutscher Medien konnten Ermittler rekonstruieren, wie der Sprengstoff an die Gaspipelines in der Ostsee gelangte» (NZZ). Die Ukrainer sollen es gewesen sein.
So ein Schwachsinn. Die Logik dieser proamerikanischen Retourkutsche liegt nur darin, dass die Ukraine, die in vitalen Funktionen am Tropf des Westens hängt, sich gegen den Vorwurf kaum wehren kann. Natürlich dementiert man – aber man wird sich hüten zu sagen, was man denkt. Alle Nachrichtensender und Printmedien, die Hershs Recherche kaum erwähnt hatten, stürzen sich jetzt auf die Neuigkeit und verbreiten sie als wichtige These. Noch zwei, drei Wochen, dann wird sie als die Wahrheit gelten.
Ein weiteres Beispiel: Die USA verschärfen ihren Wirtschaftskrieg gegen China seit Monaten. Sie wollen den chinesischen Ambitionen, in Sachen Künstlicher Intelligenz zur führenden Weltmacht zu werden, entgegentreten, indem sie China vom Zugang zu Hochleistungschips fernhalten. Präsident Xi Jinping und sein neuer Aussenminister Qin Gang haben den USA deshalb diese Woche vorgeworfen, sie würden gegenüber China eine Politik der «Unterdrückung und Eindämmung» betreiben (NZZ).
Kein unvoreingenommener Beobachter könnte aufgrund der Faktenlage diese Aussage anzweifeln. Nichts wäre deshalb logischer als zu akzeptieren, dass Xi zum Westen auf Distanz geht und im Ukraine-Krieg der Position Putins zuneigt. Aber Logik interessiert die westliche Propaganda keinen Deut. Man beklagt mit orchestrierten Lamento, Chinas Position im Ukraine-Krieg habe Schlagseite in Richtung Putin. Wir müssten uns vorsehen und die Sanktionen verschärfen. Wer kann da noch folgen?
In dieser furchtbaren Zeit müssen wir uns auf der Suche nach der Wahrheit an Plausibilitäten halten. Wir finden sie, indem wir nach den Interessen fragen. Der chinesische Aussenminister Qin sagt andeutungsreich, eine «unsichtbare Hand» sorge dafür, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland eskaliere (NZZ). Diese vielsagende Metapher auf den Spuren von Adam Smith hätte die NZZ aufgreifen und hinterleuchten können. Aber stattdessen kriegt Qin nur westliche Schelte ab. Statt den Feinsinn zu loben, zieht man es vor, ihn zu vernebeln.
In klassischen Zeiten des Römischen Reiches beobachteten die Auguren den Vogelflug, um den Gang der Welt mit einer gewissen Wahrhaftigkeit zu deuten. Heute müssen wir uns an die Steigrichtung der Nebelpetarden halten, um zu verstehen, woher der Wind pfeift.
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