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AutorenbildReinhard Straumann

Bismarcks Klugheit

Aktualisiert: 24. Feb. 2022

Die Welt sitzt auf einem Pulverfass und die Lunte brennt. Ein rücksichts- und skrupelloser Gewaltmensch macht wahr, was wir nicht für möglich gehalten hatten: Die Durchsetzung von territorialen Ansprüchen mit primitiver militärischer Gewalt. Niemand weiss, wohin uns Putins Aggressionen führen werden. Alles kommt uns vor wie ein Déjà-vu, wie Erinnerungen an die Jahre 1938 und 1939. Heute wie damals ist (respektive war) die Welt mit einem Potentaten konfrontiert, der Grossmachtsansprüche zu Lasten eines ihm mehr oder minder ausgelieferten Kleinstaates erhob und Teilgebiete von ihm einforderte. Die Welt nimmt Anteil, ist schockiert, verhandelt – und erreicht gar nichts.

Im September 1938 forderte Adolf Hitler das tschechoslowakische Sudetenland, für das er eine sprachliche, kulturelle und historische Verbundenheit mit dem „Reich“ geltend machte. Um die Bedrohung des Weltfriedens zu entschärfen, wurde in letzter Sekunde in München eine Konferenz der Mächte organisiert (GB, Frankreich, Deutschland, Italien), in deren Verlauf Hitler das Geforderte gewährt wurde. Er erklärte im Gegenzug seine territorialen Ansprüche für befriedigt. Die Tschechoslowakei sass in München nicht am Tisch, sie war nur Objekt der Begierde respektive die Morgengabe der Besänftigungspolitik der Westmächte. Hitlers Versprechen hielt ein halbes Jahr. Im März 1939 marschierten deutsche Truppen in die Rest-Tschechei ein. Am 1. September folgte der Angriff auf Polen, und endlich reagierten die Westmächte. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen.

Bei Wladimir Putin geht alles noch schneller. Zu Beginn der Woche verkündete er die Anerkennung der ukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk als eigenständige Staaten, Mitte Woche ist der militärische Angriff auf die Ukraine erfolgt. Opfer ist ein unter dem Schutz des Völkerrechts stehender unabhängiger Staat, der das Pech hat, dass der Potentat der benachbarten Grossmacht wie weiland der Gröfaz (grösster Feldherr aller Zeiten) eine sprachliche, kulturelle und historische Verbundenheit reklamiert.

Eine heftige Reaktion der westlichen Welt tut Not. Die Hoffnung auf „Peace for our time“, wie Chamberlain 1938 nach der Münchner Konferenz frohlockte, ist verspielt. Direkte militärische Konfrontationen zwischen Russland und der NATO sind jedoch angesichts des nuklearen Potentials beider Blöcke unter allen Umständen zu vermeiden. Wirtschaftliche Sanktionen können wirksam sein, aber sie müssen die Richtigen treffen. Das Einfrieren der zig-milliardenschweren Auslandguthaben von vielleicht 100 russischen Oligarchen aus dem direkten Umfeld Putins würde unvermeidlich Wirkung zeigen. Eine hohe internationale Solidarität - einschliesslich der Schweiz - wäre dazu vonnöten.

Aber ohne eine gewisse politische Klugheit seitens der NATO wird es nicht gehen. Putin hat sich in seiner Aggressivität in eine Ecke verrannt, aus welcher es ohne Gesichtsverlust keinen Ausweg gibt. Er ist jedoch nicht der Mann, der einen Gesichtsverlust hinnimmt. Der Westen wäre deshalb gut beraten, ihm einen Ausstieg ohne Gesichtsverlust zu ermöglichen. Hart in der Sache, mässigend in der Form. Die Themen Osterweiterung (der NATO) und Rüstungskontrolle (sollte die je wieder zur Diskussion stehen…) bieten sich an.

Parallelen zwischen Hitlers und Putins Kriegstreiberei liegen nicht nur in den geopolitischen Situationen. Sie erstrecken sich auch auf die jeweiligen historischen Voraussetzungen. Der Versailler Friede von 1919 hatte Deutschland gedemütigt, hatte dem Verlierer die alleinige Kriegsschuld aufgebürdet, ihn territorial beschnitten, ihm unendliche Reparationszahlungen auferlegt und seine Armee entwaffnet. Die Sieger waren zu unbedacht, sich im Triumph so zu mässigen, dass es nicht unweigerlich zu Retorsionen käme, sobald Deutschland dazu in der Lage wäre. Die Irrationalität einer gedemütigten Nation sollte nie unterschätzt werden.

Die NATO hat diesen Fehler wiederholt, als die Sowjetunion den Kalten Krieg verloren hatte. Ihre wirtschaftliche Überlegenheit versetzte die Welt des Kapitalismus in einen unangemessenen Siegestaumel. „End of History!“ jubelte der amerikanische Historiker Francis Fukuyama: Die Geschichte sei an ihr Ende gekommen, jeder Widerspruch aufgehoben, die Menschheit würde fortan in der kapitalistischen Ordnung geschichtslos ihrem Ende entgegen dämmern. Russland, aus der Erbmasse der Sowjetunion hervorgegangener Kastratenstaat, sei nur noch eine „Regionalmacht“, posaunte Barack Obama in die Welt. Reihenweise nahm die NATO neue Mitglieder auf, die einst unter der Kontrolle der UdSSR gestanden hatten: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien… Jetzt war der Dominoeffekt da, den der Westen immer gefürchtet hatte – aber zu seinen Gunsten.

Wenn die NATO nicht einsieht, dass sie den Bogen überspannt hat, dann wird es keinen Frieden geben. Das ist keine Putin-Versteherei und kein Appeasement, sondern Einsicht, so schwer sie uns fallen mag. So, wie es richtig ist, Hitler für seine unsäglichen Verbrechen zu verurteilen und gleichzeitig den Versailler Vertrag als politischen Fehler zu kritisieren, so ist es richtig, Putin als verbrecherischen Usurpator zu sehen und gleichzeitig zu erkennen, dass die Gier der amerikanischen Rüstungsindustrie, die NATO ungebremst nach Osten zu treiben, falsch war.

1866, nach dem Sieg Preussens im Deutsch-Österreichischen Krieg, forderte der preussische König Wilhelm I. von seinem Ministerpräsidenten Bismarck eine Siegesparade der preussischen Truppen vor der Hofburg in Wien. Bismarck war klug genug, seinen sofortigen Rücktritt anzudrohen, sollte der Monarch auf der Demütigung der unterlegenen Nation bestehen. Er wusste, dass er auf eine friedliche Koexistenz mit dem Nachbarn in Zukunft angewiesen sein würde.


[Angepasste Version vom 24.2.2022 nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine in der Nacht zuvor.]

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