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AutorenbildReinhard Straumann

Zeitenwende

Wenn jeweils nach Ablauf eines Jahres einige Sprachbeobachter der «Gesellschaft für deutsche Sprache» in Wiesbaden (resp. des «Departementes für angewandte Linguistik» der ZHAW für die Schweiz) das «Wort des Jahres» küren: Hat dann der Begriff das Jahr oder das Jahr den Begriff geprägt? Es ist die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Was war zuerst da? War da eine neue Erscheinung, die dem Jahr so sehr den Stempel aufgedrückt hat, dass dafür ein Begriff gefunden werden musste, oder war eine neue Wortschöpfung so aussagestark, dass das Jahr im Nachhinein im Lichte dieses Begriffes aufscheint?

Nicht immer ist es so einfach, wie es im vergangenen Jahr war: «Impfdurchbruch» lautete der hierzulande gewählte Begriff. Hier war klar: die Sache hat das Wort geschaffen. Wenn aber, wie wir jetzt mutig in den Raum stellen, Ende 2022 die «Zeitenwende» gekürt wird, wie ist es dann? Der Begriff stammt aus der Feder des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (respektive seiner Texteschreiber); er fand durch Scholz’ Rede vom 27. Februar vor dem Bundestag Eingang in den gesellschaftlichen Sprachgebrauch. Was Scholz meinte, ist klar: Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine vier Tage zuvor habe die Welt so sehr verändert, dass damit eine neue Epoche eingeläutet wurde. Wandel durch Handel war out, die Erstellung der Kriegsbereitschaft war in. 100 Milliarden hat er in die Luft geworfen, um die Bundeswehr auf Vordermann zu bringen.

Im Unterschied zum Jahr 2022 hatte das Jahr 2003 nicht die Kraft, den Begriff der «Zeitenwende» hervorzurufen, obwohl damals exakt dasselbe geschehen war: Ein völkerrechtswidriger Angriff der USA auf den Irak hatte stattgefunden, unter schamlosester Beschwindelung der UNO. Die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein wollte die «Allianz der Willigen» (anstelle der UNO, die die Gefolgschaft verweigerte) vernichten sowie dem Irak Demokratie und Menschenrechte bringen. Knappe 20 Jahre danach wissen wir, dass es die Massenvernichtungswaffen nie gegeben hat, dass statt Demokratie und Menschenrechten Chaos und nicht endende Gewalt Einzug gehalten haben und dass eine Million Menschen aufgrund dieses Krieges seither das Leben verloren hat. Dafür hat der Ausverkauf des Irak und seiner Bodenschätze an die amerikanischen Konzerne stattgefunden. Nie hatte es andere Ziele als dies und die Umsetzung eines geopolitischen Machtanspruchs der USA gegeben.

Aber Zeitenwende? Man denke! Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch längst nicht dasselbe. Deutschland und Frankreich (und die neutrale Schweiz ohnehin) haben damals nicht mitgemacht – das war die äusserste Erscheinungsform von Protest. Wenn aber nicht die Aufkündigung der Diplomatie mit den Mitteln der völkerrechtswidrigen Gewalt die begriffsprägende Sache war, was ist es denn?

Offenbar liegt hier die Situation vor, dass nicht die Sache den Begriff hervorruft, sondern der Begriff die Sache. Der Begriff bildet nicht eine Erscheinung ab, sondern er ist Programm. «Zeitenwende» war das Fanal für: Jetzt dürfen die Rüstungsbeschaffer und ihre Lobby wieder so richtig frisch von der Leber aus dem Vollen schöpfen. Man rüstet auf, koste es, was es wolle. Die Wehrbudgets schiessen in die Höhe. 100 Milliarden in Deutschland, neun Milliarden (zufolge der gestrigen Rüstungsdebatte im Nationalrat) in der Schweiz mit Folgekosten von zusätzlichen Hunderten von Millionen alle Jahre wieder. Viola Amherd, umtriebige Gefolgsfrau ihrer Rüstungsexperten, spielte die erste Geige bei den Forderungen nach mehr Geld und zog dafür auch Steuererhöhungen in Erwägung (dabei wurde sie sogar von Ueli Maurer zurückgepfiffen). Das Streichkonzert überlässt sie, die Frau der Mitte, gerne den anderen Departementen, beispielsweise der Bildung oder den Sozialausgaben, wie die NZZ ziemlich phantasielos noch am gleichen Abend ankündigte. Man kennt ja seine Pappenheimer. Wichtig ist: Jetzt kriegt die Schweizer Armee nebst den F-35 auch noch neue Mörser. Irrelevant, dass man sie mit Garantie nie brauchen wird. Hauptsache, man rüstet auf.

Zeitenwende heisst offenbar nichts anderes, als dass die neoliberale Selbstbedienungsmentalität der grossen Konzerne (der Rüstungs-, Öl- und Nahrungsmittelindustrie), immer zulasten des steuerzahlenden Mittelstandes, in eine neue Drehzahl schalten darf. In der Schweiz werden unter Umgehung aller Spielregeln der Demokratie neue Kampfflugzeuge zu einem Zeitpunkt beschafft, wo eine Volksabstimmung zur Verhinderung dieses Geschäfts angekündigt ist. In Deutschland hat der Bundestag 30 Cents Steuervergünstigung pro Liter Sprit vordergründig zugunsten der Bürgerinnen und Bürger beschlossen – wieviel davon aber von den Mineralölkonzernen tatsächlich an die Kunden weitergereicht werden, bleibt ihnen überlassen. Bezahlen werden auch diese Zeche irgendwann einmal diejenigen, um die der Staat sich jetzt angeblich Sorgen macht. Oder ihre Kinder.

Zeitenwende, Putin sei Dank… Die neoliberalen Profiteure haben allen Grund, sich ins Fäustchen zu lachen. Es ist geradezu ein Hohn anzunehmen, dass irgendjemand in den wirklichen Entscheidungszentren dieser Welt ein Interesse daran haben könnte, dass dieser furchtbare Krieg schnell zu Ende gehen wird. Von einer wirklichen Zeitenwende würden wir dann sprechen, wenn die Politik endlich einmal nicht die Bedürfnisse der Konzerne, sondern jene der Menschen in den Vordergrund rücken würde.

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