Das Unfassbare wird zur neuen Wirklichkeit. Vor zehn Tagen hat es uns in Schock versetzt, heute reagieren wir mit fatalistischem Schulterzucken. Trotz aller Empörung müssen wir hinnehmen, dass Bomben auf Spitäler und Schulen geworfen werden. Müssen wir zusehen, wie eine Erobererarmee eine Zivilgesellschaft zermalmt. Wir sind Zeitzeugen des grössten Flüchtlingsstroms in Europa seit 1945. Wir sehen zu, weil wir ratlos einem Gewaltherrscher und einer ihn umgebenden, angeblich nur fünfköpfigen Gruppe gegenüberstehen, deren Weltsicht ein Hohn ist auf jeglichen zivilisatorischen Fortschritt. Ratlos sind wir, weil diese Irrläufer über einen Apparat verfügen, den sie jederzeit zur Zerstörung der Welt einsetzen können und schamlos damit drohen. Und ratlos sind wir, weil wir es ihnen zutrauen, weil kein menschliches Licht in den Kommandobunker zu dringen scheint, wo die Fäden ihrer Allmachtsphantasien zusammenlaufen.
Nie war Friedrich Dürrenmatts Theaterstück «Die Physiker» aktueller als heute: Ein Physiker flüchtet sich ins Irrenhaus, weil er eine Erfindung gemacht hat mit dem Potential, die Welt zu zerstören. Er nimmt die Erfindung mit in sein Gefängnis, weil er die Menschheit verschonen möchte. Aber schon haben die Geheimdienste von West und von Ost davon Wind bekommen und schicken ebenfalls je einen Physiker ins Irrenhaus, damit sie den Erfinder von ihrem Weltbild überzeugen und ins eigene Lager zerren sollen. Ihm aber gelingt es, den Geheimdienstlern einsichtig zu machen, dass sie, zum Schutz der Menschheit, gemeinsam mit ihm das Martyrium der lebenslänglichen Klapsmühle auf sich nehmen müssen. Die Welt wäre gerettet… hätte nicht die Irrenärztin die Manuskripte längst insgeheim kopiert. Jetzt hat sie, die einzige wirklich Irre, die Welt in ihren Händen.
Dürrenmatt habe sein Stück, eigenen Aussagen zufolge, «nicht mehr sehen können» – zu oft war es gespielt worden, zu oft in Schüleraufführungen malträtiert, zu plakativ war der Spiegel der Wirklichkeit in der Tragikomödie. Dürrenmatt mochte sein Stück in den späteren Lebensjahren nicht mehr, und er hat deshalb auch seinen «Anmerkungen» zu den «Physikern» nicht mehr viel Bedeutung beigemessen. Darin finden sich die Sätze: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Diese tritt durch Zufall ein.»
Jetzt hat die Wirklichkeit die Fiktion eingeholt; die schlimmstmögliche Wendung ist eingetreten. Es bedarf dazu keines Atomschlags. Die Welt ist in den Händen eines Killers. Eines Mannes, der seine politische Karriere im KGB lanciert und es zu dessen oberstem Chef gebracht hat. Eines Verbrechers, der sich, gemäss der schweizerischen «Handelszeitung» vom 17.2.2015 (!), ein Vermögen von 200 Milliarden Dollar angeeignet hat. Wie viele Leichen in seinem Keller liegen, können wir Normalmenschen nicht einmal erahnen.
Alles, was die Welt seit 1989 an Entspannungsbemühungen gesehen hat, geht mit den ukrainischen Städten in Trümmer. Internationale Zusammenarbeit, die noch im Kalten Krieg blockübergreifend möglich wurde, wird null und nichtig. Die UNO ist machtlos. Hungersnöte in allen Krisenregionen dieser Erde sind angesagt, weil mit der Ukraine und Russland zwei Kornkammern als Weizenlieferanten weitgehend ausfallen werden.
Obwohl es keinen ideologischen Gegensatz zwischen Ost und West mehr gibt, sind die Blöcke wieder da, militanter als je. Kann man daraus schliessen, dass der ideologische Gegensatz gar nie Stein des Anstosses war, sondern dass es immer nur um das Streben nach Macht und Vorherrschaft ging und um die Interessen der Rüstungsindustrie, hüben und drüben? Die Rechtskonservativen, die das Heil stets in der militärischen Aufrüstung gesehen haben, strotzen jetzt vor Genugtuung. Die Logik des Augenblicks treibt neuerdings auch die Besonnenen in ihr Lager. Mit hundert Milliarden Euro will der deutsche Bundeskanzler Scholz die Bundeswehr auf Vordermann bringen. In der Schweiz fordert die Verteidigungsministerin den Rückzug des Volksbegehrens gegen die neuen F-35-Kampfflieger und die SVP will über deren Beschaffung hinaus noch zusätzliche Milliarden für die Armee locker machen. Und alle ziehen nach, von Spanien bis Skandinavien.
Die schlimmstmögliche Wendung war, wenn wir Dürrenmatt folgen, eine Frage des Zufalls, weil sie in den Händen eines irren Individuums liegt. Ihre Konsequenz könnte eine Militarisierung des Abendlandes sein, wie wir sie erst einmal gesehen haben: vor 120 Jahren, als der Erste Weltkrieg vorbereitet wurde. Wenn wir der Logik von damals folgen, ist unsere strahlende Zukunft gesichert.
Deshalb müssen wir uns hüten, diese ultimative Wendung unwidersprochen hinzunehmen. Auch wenn es derzeit nicht opportun ist, gegen den anlaufenden Rüstungswahnsinn die Stimme zu erheben, so ist es doch unverzichtbar. Waffen haben die Probleme noch nie gelöst, sie haben einzig die Lösungen um den Preis von Abermillionen von Menschenleben verzögert. Wie können neue Kampfflugzeuge ein Schutz sein, wenn der Gegner als erstes mit Lenkwaffen die Flugplätze zerstört, sodass die schnittigsten Flugzeuge weder starten noch landen können? Die bisherige Kampfführung von Putins Armee ist ein einziges Fiasko. Sie ist, nach Vietnam und Afghanistan, der wiederholte Beweis, dass die waffentechnische Hochrüstung für gar nichts taugt.
Was liesse sich mit den hundert Milliarden – eine Zahl, die Olaf Scholz einfach aus dem Ärmel geschüttelt hat – in Sachen Klimaschutz, Gesundheitsvorsorge oder Bildung alles machen! In all den Bereichen, in denen die wirklichen, nämlich die langfristigen Probleme unserer Gesellschaften stecken, fehlt dieses Geld jetzt. Wenn wir den gegenwärtigen Tendenzen nicht entgegentreten, ist das ein Kotau vor all den Putins dieser Welt, auch wenn das der Logik des Augenblicks zu widersprechen scheint. Was hilft, sind die wirtschaftlichen Sanktionen, ein Produkt internationaler Zusammenarbeit, nicht Schnellschüsse der Aufrüstung.
Comentários