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Sleepy Joe erwacht

Joe Biden, 47. Präsident der USA, dem noch im Wahlkampf kaum etwas anderes zugetraut worden war, als Platzhalter für seinen unseligen Vorgänger zu werden, hat seine Amtszeit mit einer Entschlossenheit angetreten, die uns verwundert nach Washington schauen lässt. Als müsste er der Welt beweisen, dass Alter und Entscheidungsfreudigkeit nichts miteinander zu tun haben, hat er der Pandemie den Kampf angesagt, Hilfsprogramme aufgestellt, die Impfkampagne vorangetrieben. Als gäbe es kein Morgen, macht er sich an sozialpolitische Pendenzen. Eine Supersteuer für die Superreichen, Mindeststeuersätze für Unternehmungen… die Komfortzone des kapitalistischen Establishments gerät ins Wanken. Endlich, endlich scheint eine westliche Führungsfigur verstanden zu haben, dass es Demokratie ohne ein gewisses Mass an sozialer Gerechtigkeit nicht gibt. Insofern gibt uns Joe Biden, von Grossmaul Trump gerne als «Sleepy Joe» lächerlich gemacht, durch seine innen- und sozialpolitische Handlungsstärke einen Hauch von Hoffnung. Biden hat denjenigen den Kampf angesagt, die unter dem Deckmantel von Liberalismus einem Raubtierkapitalismus frönen, der nur ihnen selbst nützt, der überwiegenden Mehrheit aber schadet und uns alle dem Abgrund zutreibt,

Leider aber mehren sich die Anzeichen, dass die Hoffnung, die seine Innenpolitik macht, im Äusseren fatal konterkariert wird. Aussenpolitisch ist Biden ein Hardliner, ein Falke. Politisch gross geworden in der Zeit des Kalten Krieges, teilt er nach Russland und nach China brandgefährliche Hiebe aus. In der Aussenpolitik hat er sich Trumps «America first» in beänstigender Weise zu eigen gemacht. Und mit besonderer Lust reitet er das amerikanische Steckenpferd, Konflikte mit Russland deshalb zu schüren, weil der Konfliktherd in Europa liegt und die Austragung eines solchen Konfliktes uns treffen würde – und nicht die USA. Hier wäre ein bisschen mehr Altersweisheit nicht nur wünschenswert, sondern könnte überlebenswichtig werden.

Im Brennpunkt steht aktuell die Ukraine, nicht zum ersten Mal. Dieser Streitpunkt hat deshalb eine lange Vorgeschichte, weil die USA das legitime Schutzbedürfnis Russlands geradezu provokativ ignorieren, respektive dieses immer wieder benützen, um den Konflikt zu schüren. Betrachtet man die Geschichte Osteuropas über längere Zeiträume, so muss man feststellen, dass nicht der Osten für den Westen eine Bedrohung darstellt, sondern umgekehrt. Russland musste sich stets hüten vor dem Westen, vor dem preussischen Friedrich, vor Maria Theresia, vor Napoleon, vor dem Zweibund, vor der Wirtschaftsblockade der Westmächte (die nach der Russischen Revolution 4 Millionen Hungertote forderte), vor Hitler… Aber wer während zweier Weltkriege im 20. Jahrhundert für den Westen blutete, war Russland: von 10 Millionen getöteten Soldaten im 1. Weltkrieg waren 8 Millionen Russen, von 40 Millionen im 2. Weltkrieg waren 20 Millionen Russen. Regiment um Regiment hat Russland an die Fronten Osteuropas geworfen, bis endlich die USA soweit waren, im Westen für Entlastung zu sorgen. 1917 und 1944, als Europa zweimal am Boden lag, war es für die USA ein Leichtes, die ausgebluteten Schlachtfelder einzunehmen und Europa mit amerikanischem Kapital zu fluten. Dass wir Westeuropäer dafür bis heute vor den USA in die Knie gehen und Russland mit Verachtung strafen, ist eine grandiose Leistung der westlichen Propaganda resp. der Suggestivkraft des «American Way of Life».

1989, als der Ostblock implodierte, gab Michael Gorbatschow grünes Licht zur deutschen Wiedervereinigung gegen das hohe und heilige Versprechen von Präsident Bush (Vater) und dessen Aussenministers Baker, die NATO würde sich «keinen Zentimeter» nach Osten erweitern... 10 Jahre später waren Polen, Tschechien und Ungarn in der NATO, 2004 folgten der Rest des ehemaligen Warschauer Pakts (der sich aufgelöst hatte, während die NATO vorrückte), 2009 Albanien und Kroatien.

Der amerikanische Wortbruch sprengte alle Dimensionen des politischen Anstands. Er war eine Provokation mit dem Ziel, Europa zu spalten und die Auftragsbücher der amerikanischen Rüstungsindustrie gewaltig zu füllen. Um das alles noch zu toppen, folgte 2014 der Putsch in der Ukraine, wiederum, wie heute zweifelsfrei feststeht, auf Initiative des Pentagon mit amerikanischem Geld und amerikanischen Militärberatern. Man stelle sich vor, China oder Russland hätten etwas Vergleichbares in der amerikanischen Einflusssphäre versucht und dort Militärbasen und Raketenabschussrampen errichtet… Als sich daraufhin Putin die Krim und die Ostukraine – ebenso völkerrechtswidrig – sicherte, schrie der Westen Zeter und Mordio; die proamerikanischen Leitmedien FAZ und NZZ, ARD und ZDF, SPIEGEL und Fokus überboten sich in ihrer Schwarz-Weiss-Malerei.

Jetzt baut sich als neuer Leitstern in dieser Phalanx Joe Biden auf. Dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj stellte er einen Blankocheck aus, als dieser kundtat, er wolle die Krim zurückholen – ohne Rücksicht auf Verluste und ohne historische Skrupel gegenüber allem, was Blankochecks in der Geschichte angerichtet haben. Und mitten in der Pandemie haut die NATO auf die Kriegstrommel, indem sie im Mai zum zweiten Mal das riesige Militärmanöver «Defender Europe 21» stattfinden lässt, um die Aufmarschpläne gegen Russland einzuüben. Putin, unvermeidlich, zieht nach und konzentriert ebenfalls seine Truppen in der Ostukraine. Die Leichtfertigkeit dieses Spiels mit dem Feuer ist geradezu atemberaubend. Dasselbe gilt für die Gefolgschaftstreue der starken europäischen Mächte zu den USA. Aus lauter Erleichterung darüber, dass Amerika nach Trump die Führungsrolle wieder übernommen hat, stellen sie sich unbesehen auf die Linie der NATO.

Corona hat gezeigt, wie leicht Katastrophen über uns hereinbrechen können, die wir als Bedrohung zwar gekannt, aber trotzdem nie ernst genommen haben. Was die NATO jetzt unter dem Diktat Bidens veranstaltet, hat das Potential von weit grösserem Unheil. Frau Merkel, Herr Macron und Herr Johnson müssten sich dringend überlegen, ob sie sich weiterhin von der amerikanischen Kriegstreiberei instrumentalisieren lassen wollen.

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