Vor Wochenfrist verkündete, vor dem Hintergrund der überraschenden militärischen Erfolge der Ukraine, die westliche Presse hoffnungsvoll «die Wende» im Kriegsgeschehen. Seit vorgestern zeigt sich, dass sie mit dieser vollmundigen Prognose recht haben könnte – aber leider im verdrehten Sinn. Kriegsfürst Putin schlägt zurück, nicht militärisch – wozu er offenbar nicht in der Lage ist –, sondern mit seinen ureigensten Waffen der Verspottung des Völkerrechts, der Unberechenbarkeit und der Perfidie.
Sein Plan besteht aus zwei Teilen, und einer davon ist schlau. Der erste, der banale, ist das implizite Eingeständnis der Selbstüberschätzung und des militärischen Versagens: Weil er mit seiner «Spezialoperation» von Fiasko zu Fiasko taumelt, muss er seine Reserven mobilisieren. Er kündigt die Teilmobilmachung aller russischen Streitkräfte an und will 300'000 Mann aufs Schlachtfeld schicken. Das hat Tradition: Die Stärke aller russischen Armeen war zu allen Zeiten die Unerschöpflichkeit der Regimenter, die verheizt werden konnten. Keine russische Generalität, von Iwan dem Schrecklichen über Stalin bis zu Putin, hat es je ein Wimpernzucken gekostet, Russlands männliche Nachkommenschaft den Kanonen zu verfüttern.
So weit, so ungut. Wesentlich gefährlicher aber wird die Sache durch den zweiten Teil des Plans, den perfiden. Putin hat bereits für die kommenden Tage Volksbefragungen in den besetzten, jetzt aber neuerdings vor der Rückeroberung durch die Ukraine stehenden Gebieten über die Staatszugehörigkeit angekündigt. Ziel ist ein Akt der Scheinlegalisierung: Werden die Plebiszite zu Gunsten Russlands verlaufen – woran, angesichts der vorhandenen Machtinstrumente und Manipulationsmöglichkeiten nicht zu zweifeln ist –, dann wird Putin den Donbass mit Hinweis auf «demokratische» Entscheide zum russischen Staatsgebiet erklären. Dass solche Abläufe mit Demokratie nicht das Geringste zu tun haben, wird ihn so wenig stören wie die Farcen seiner Wahlerfolge.
Wenn er aber die Provinzen Donetsk und Luhansk vor der Weltöffentlichkeit offiziell in russisches Territorium verwandelt haben wird, dann wird er die ukrainischen Rückeroberungsversuche zu offensiven Angriffen auf Russland erklären, und wenn diese Angriffe mit modernem Kriegsmaterial aus Zulieferungen von NATO-Staaten geführt werden, wird er sich legitimiert sehen, sie gegenüber diesen NATO-Staaten zu vergelten. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, welche Mittel er dabei einzusetzen gedenkt: alle.
Das ist nichts anderes als die Drohung mit einem Nuklearkrieg. Das wäre grundsätzlich nichts Neues, aber die Drohung wird von Mal zu Mal aggressiver und – gefährlich! – verzweifelter. Angesichts des Umstands, dass Putin bisher noch keine seiner Drohungen unausgeführt gelassen hat, erstaunt die Lockerheit, mit welcher der Westen (inklusive seiner Leitmedien) der neuesten Version begegnet. Putin, dem bisher alle Attribute zugeordnet wurden, die seinen Irrsinn illustrierten, wird plötzlich doch attestiert, «vernunftorientiert» zu sein. Hier gilt offenbar das Prinzip Hoffnung.
Putin pokert, lassen sich die Sicherheitsexperten des Westens vernehmen. Kein Zweifel. Was sie aber nicht sagen, ist, dass die NATO ebenso pokert. Das Gambling wird lieber der Schurkenseite zugeordnet als der eigenen Partei, die als besonnen gelten muss. Kann sie auch, insofern es sich um die USA handelt, die von einer möglichen nuklearen Katastrophe durch 5000 Kilometer Atlantik getrennt sind… Aber Europa? Wer pokert wohl besser, der zögernde Olaf Scholz, der militärisch unerfahrene Emanuel Macron und der tattrige Joe Biden oder der abgefeimte Wladimir Putin, von dem alle sagen, dass er nicht verlieren kann? Dessen nationale Vorbilder nie vor der Taktik der verbrannten Erde zurückschreckten? Der sich je länger desto deutlicher zu einem Desperado entwickelt, der lieber alles in den Strudel reisst, als aufzugeben?
Der Westen soll sich nicht erpressen lassen, heisst es. Das ist richtig. Wie weit aber darf in diesem Pokerspiel, in dem der Einsatz Europa ist, das Blatt ausgereizt werden? Natürlich ist der Westen im Recht. Was aber wird sein moralischer Vorteil wert sein, wenn sich Europa in einen verstrahlten Trümmerhaufen verwandelt?
Was gilt die Aussage, dass Hitler ein Verbrecher war, angesichts von sieben Millionen umgebrachter Juden?
Nichts. Eine Aussage bleibt eine Aussage. Menschliches Leid, noch dazu millionenfaches, lässt sich nicht gegen ein Diktum aufrechnen, und sei dieses noch so rechtlich. Hannah Arendts Wort von der «Banalität des Bösen» bringt es auf den Punkt. Sind erst einmal alle tot, bringt es niemandem etwas, recht gehabt zu haben.
Noch ist es nicht soweit, zum Glück, und wir hoffen alle, dass es nie so weit kommen wird. Damit es aber so bleibt, braucht es eine europäische Politik, die umsichtiger vorgeht, als einfach nur der Leuchtspur Amerikas zu folgen. Derzeit können wir aber nichts anderes erkennen als genau dies. Wäre der europäische Teil der NATO nur der transatlantischen Gefolgschaftstreue verpflichtet, so wären wir nichts als mittelalterliche Vasallen. Die Herren Macron, Scholz etc. sollten sich aber bewusst sein, dass sie vor allem ihren eigenen Nationen und Völkern verpflichtet sind; dafür müssen sie nur den Hut wechseln. Diese Verantwortung ist es, die zählt.
Danke Reinhart, deine Ausführungen ersetzen intensiveres Lesen der Tageszeitungen und regen zu Gedankengängen und angeregten Diskussionen an. Mach weiter so! Herzlich. Rolf Kämpf