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Spannende Zeiten

Die Bundestagswahlen in Deutschland vom vergangenen Sonntag haben das Überfällige eintreten lassen: Das Ende der grossen Zeit der Volksparteien naht. Deren Abgesang ist eines der politischen Merkmale der Gegenwart. Staatstragend, wie sie sich selbst immer noch sehen, sind sie insofern, als sie weiterhin die Rekrutierungsbasis für das politische Personal sind. Abgesehen davon können die einstmals mächtigen Bewegungen nicht mehr verdrängen, was der Aussenstehende längst erkannt hat: Dass den Volksparteien das Volk abhanden kommt. Sie schmücken sich mit einer Worthülse, in der nur noch Anspruch steckt, aber keine Wirklichkeit. Drei Viertel aller Deutschen haben sich von einer von beiden – SPD und CDU – abgewandt. Das gilt primär für die Union, die aufs falsche Pferd gesetzt und einen desaströsen Wahlkampf geführt hat, aber es gilt auch für die SPD, die sich formell als Wahlsieger bezeichnen darf, dabei aber nicht von eigener Stärke, sondern von den Pannen der anderen profitierte.

16 Jahre Angela Merkel, davon zwölf in der GroKo (grosse Koalition), haben die Parteikonturen verschleiert bis zur Unkenntlichkeit. Am Ende wussten die Wählerinnen und Wähler kaum, wofür die Kandidaten standen. Und erst recht blieb verborgen, wo der Unterschied sein sollte. Armin Laschet stand vor allem für Kontinuität – exakt wie sein Gegenkandidat Olaf Scholz, der bisherige Vizekanzler, der die Übermutti Merkel bis hin zur Raute bei den Fototerminen kopierte. Dass er daneben auf einem Divergenzpunkt beharrte – nämlich dem Versprechen auf einen Mindestlohn von 12 Euro –, ist Ausdruck des sozialen Gewissens seiner Partei, grenzte ihn aber nicht wirklich ab. Über diesen 12 Euro wäre keine Koalition zerbrochen.

Wo aber keine Alternative ist, ist keine Wahl, und wo keine Wahl ist, ist keine Demokratie. Die fast historische Chance, die sich den Grünen bot, haben sie vertan, weil ihre Kandidatin ebenso patzte wie jener der Union. Immerhin hat das Wahlergebnis jetzt die besondere Konstellation erbracht, die den Grünen im Verbund mit der FDP die Rolle von Königsmachern zuordnet. Grün und Gelb haben Vorgespräche darüber aufgenommen, in wessen Lager sie sich gemeinsam legen wollen: ins mittlere oder doch ins linkere.

Wir können nicht ermessen, wie sexy es dort zugehen wird. Aber die Hauptrolle im „Game of Thrones“ spielen zu dürfen, ist offenbar Kitzel genug. Annalena Baerbock und Robert Habeck, Co-Präsidentin und -Präsident der Grünen, sowie Christian Lindner und Volker Wissling, Präsident und Generalsekretär der FDP, geniessen ihre Rolle so sehr, dass alle ideologischen Differenzen plötzlich überbrückbar erscheinen. Spätnachts posteten sie ein Selfie wie nach einem Kochkurs zu viert und texteten dazu: „Auf der Suche nach einer Regierung loten wir Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes aus. Und finden sogar welche. Spannende Zeiten!“

Das kann man nachvollziehen. Nach 16 Jahren des Aussitzens aller Probleme, die erfordert hätten, den Grosskonzernen (etwa der Automobilindustrie) auf den Schlips zu treten, ist der Reformstau so immens, dass das Tummelfeld offener Fragen vorläufige Gemeinsamkeiten vorgaukelt. Sie werden früh genug an den ideologischen Mauern zerschellen. Steuererhöhung oder Steuersenkung? Tempolimit auf Autobahnen? Erfüllen der NATO-Forderung von 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes? Mietendeckel bundesweit? Abschaffung privater Krankenkassen? Wie, bitteschön, soll es eine programmatische Einigung und ein längerfristiges gemeinsames Regieren geben bei soviel Gegensatz?

Es wird weder den Grünen noch den Gelben noch beiden gemeinsam gelingen, zu Lösungen zu kommen, wo die GroKo den Kopf in den Sand steckte. Wer zu lange an der Macht ist, neigt unvermeidlich dazu, jede Politik dem Status quo unterzuordnen – weil dieser so schön einträglich ist. Deshalb klinken sich junge Menschen aus der Politik aus, denn sie haben ein Gespür dafür, wo Politik sich um die Bewältigung der anstehenden Aufgaben dreht oder wo der Pfründenhaushalt im Vordergrund steht. Die Politikverdrossenheit der Jugend liegt keineswegs an einem grundsätzlichen Desinteresse, sondern im Zweifel, den Filz des Bestehenden durchdringen zu können. Wenn Volksparteien über Jahrzehnte vor allem ihre Macht bewirtschaften und die brennenden Fragen kaum berühren, weil sie Angst haben, sich die Finger zu verbrennen, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn ihnen das Volk den Rücken zudreht.

In der Schweiz besteht durch ihre spezifische Regierungsform eine institutionalisierte GroKo seit mehr als 60 Jahren. Sie heisst Zauberformel. Kommt es innerhalb dieser Allianz zu minimalen Verschiebungen (zwei Mal SVP im Bundesrat statt zwei Mal CVP, man stelle sich vor!), haben die Eidgenossen bereits das Gefühl von einem Erdbeben mittlerer Stärke. Vielleicht artikuliert sich darin die Angst der Volksparteien, dass auch bei uns das Volk sich abwenden könnte. Um die permanente Krise zu kaschieren, in der sie stehen, ist dafür das Wort vom Aufbruch allgegenwärtig. Doch das sind nicht mehr als rhetorische Übungen. Die frühere CVP, die jetzt Mitte heisst, hat mit dem Namenswechsel grosse Schritte in die Zukunft versprochen. Zu spüren ist davon gar nichts. Die SVP, der das Ausländerthema entgleitet, versucht, das Publikum mit markigen Sprüchen der Herren Maurer, Glarner und Chiesa bei Laune zu halten, mehr nicht. Und die FDP, Paradefall einer Partei, die sich vom Volk ab- und dem Kapital zugewandt hat, schlittert genau deshalb von Krise zu Krise. Als Petra Gössi eine Hinwendung zu den ökologischen Gegebenheiten riskierte, wurde sie sofort abgestraft. Der neue Präsident Tierry Burkhart, der dieses Wochenende gewählt wird, steht für den rechtsbürgerlich-kapitalorientierten Kurs. Dabei könnte man doch gerade jetzt exemplarisch von Deutschland lernen. Spannende Zeiten, in der Tat! Nur haben es noch nicht alle bemerkt.

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