Wie ein Brennglas fokussiert das Corona-Jahr 2020 die ganze Palette menschlicher Laster und bringt sie zum Entzünden. Gerechterweise muss man sagen: auch einige Tugenden waren dabei, die Besonnenheit (bei wenigen), die Solidarität (anfänglich), die Tapferkeit (des medizinischen Personals weltweit). Doch das Rühmen hat bald ein Ende. Nach dem frühen Schock, uns selbst in einem ungekannten Ausmass der eigenen persönlichen und gesellschaftlichen Verwundbarkeit ausgesetzt zu sehen, hat das Leben in der „neuen Normalität“ alles an den Tag gebracht, worauf wir nicht gewartet hatten. Kurzsichtigkeit, Dummheit, Eigennutz, Kleinmütigkeit, Verschwörungsängste, Hybris dominieren die Wahrnehmung, so oft wir in die Medien gucken. Angeführt vom mächtigsten Mann der Welt, Donald Trump, dem Superspreader der Falschinformation, der Lüge und der hohlköpfigsten Demagogie, verhalten sich auch bei uns viele Menschen sturköpfig und beratungsresistent.
In der Schweiz, wo wir offensichtlich keine grösseren Probleme haben, wird derzeit heftig die nach und nach allerorts verordnete Maskenpflicht diskutiert. Die Auflage, in Innenräumen des öffentlichen Lebens jederzeit den Mund- und Nasenschutz zu tragen, ruft Menschen auf den Plan, die in aller Aggressivität behaupten, ihre Grundrechte würden verletzt. Wo, bitteschön, steht in der Menschenrechtscharta, dass Shopping jederzeit maskenfrei zu gewährleisten sei? Das Beispiel zeigt, wodurch unsere Vorstellung von Freiheit bestimmt ist: durch Konsum und Wachstum. Dessen Grenzen hat der Club of Rome bereits vor 50 Jahren vorausgesagt. Dass wir sie jetzt durch eine Pandemie aufgezeigt erhalten, ist einzig dem Umstand geschuldet, dass wir nicht früher aus Vernunft klug geworden sind.
Die schweizerische Bundesverfassung beginnt mit der von Adolf Muschg formulierten Präambel: die Schweiz gebe sich die folgende Verfassung „im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Ver-antwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“. Grossartige Sätze! – und doch nichts weiter als Verfassungspoesie. Weshalb will es nie gelingen, dass sich eine Gesellschaft ihren Zielen würdig erweist?
Eine der für uns geltenden Antworten lautet: Weil wir auf der privilegierten Seite des Lebens stehen und verbissen gegen jeden befürchteten Abbau unserer Annehmlichkeiten kämpfen. Die Angst vor dem Ver-zicht erzeugt den Eigennutz. Zuerst unsere eigenen Schäfchen ins Trockene bringen, dann die Gemeinschaft! Alle schimpfen über Trumps „America first!“, aber viele folgen ihm mit ihrem individuellen „Me first!“, zum Beispiel in der Verleugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, in der Selbstinszenierung, in der Hybris.
Hybris ist die Selbstüberhebung des Menschen über die Summe aller ihn definierenden Bedingungen, über das Gesetz und über die Natur. Mir kann keiner, heisst ihr Credo. Kaum geht es uns gut, werden wir übermütig. Die Rückkoppelung zwischen der Ausbreitung des Virus und dem gesellschaftlichen Verhalten ist offensichtlich: Kaum gingen (im späten Frühling) die Zahlen zurück, ergriff der Leichtsinn die Men-schen. Kaum zeigt sich, dass dringend Einhalt geboten werden muss, beginnt die Lüge: „Corona ist eh nicht mehr als eine kleine Grippe!“ oder „Masken bringen nichts.“
Die Nation, die uns das in tausend Themen seit zwei Jahrhunderten vorexerziert, sind die USA. Dass dort ein verantwortungsloser Schurke wie Trump die Macht an sich gerissen hat (und offensichtlich nicht mehr loslassen will), ist weder Zufall noch die Ursache des Übels, sondern es ist ein Symptom für eine von innen her kranke Gesellschaft.
Die Wurzeln liegen, wie immer, in der Geschichte. Die vielgelobte amerikanische Verfassung ist nicht halb so freiheitlich, wie ihr nachgesagt wird; im Grunde ist sie eine Kopie der englischen Monarchie (des 18. Jahrhunderts) mit einem Präsidenten statt eines Königs und mit einer viel zu starken Exekutive. „Die-jenigen sollen das Land regieren, die es auch besitzen!“, war das Motto beim Entwurf dieser Verfassung. Widerspruch gab es kaum, weil die amerikanische Revolution, aus der die Verfassung hervorgegangen war, im Unterschied zu allen europäischen Revolutionen weder ein soziales Gewissen noch ein moralisches Credo hatte. Jakobiner oder Sansculottes gab es keine; man wollte einfach die Unabhängigkeit von England, um sich selbst verwirklichen zu können. Das tat man denn auch in aller Rücksichtslosigkeit: die Oberen gegen die Unteren, die Weissen gegen die Indianer und die Schwarzen, alle gegen die natürlichen Ressourcen. Eroberung hiess das Motto, nicht Gestaltung oder Verwaltung.
Diese Geschichte ist kaum aufgearbeitet worden, und dem durchschnittlich gebildeten Amerikaner käme es nicht in den Sinn, sie zu hinterfragen. Das Erbe dieser Unterlassung ist die Hybris. Je unverrückbarer aber die Grenzen des Wachstums werden, desto aggressiver wird die Schicht, die etwas zu verlieren hat. Ihre Welt darf nicht infrage gestellt werden. Es ist die Welt des Donald Trump. Um keine Zweifel auf-kommen zu lassen, leugnet man mit ihm alle Fakten, geht man über alle Risse in der eigenen Gesellschaft hinweg. Weil man nicht denkt, sondern glaubt, gelingt es, auch viele weisse Verlierer dieses Systems ins Boot zu holen, denn diese stehen immer noch über der Mehrheit der Schwarzen. Sie sind blind dafür, dass sich die USA längst von einer Demokratie zu einer Plutokratie (Herrschaft des Geldes) gewandelt haben. Der egomanische Autokrat an ihrer Spitze ist ihnen ein Messias, solange sie selbst noch etwas zu verlieren haben.
Das Gegenteil von Hybris ist die Demut. Aber nicht die vom Christentum gelehrte zerstörerische Unter-ordnung unter Gott, die Millionen von Menschen um ihr diesseitiges Leben betrogen hat. Sondern jene im Sinne von Kant: Demut ist die aus Vernunft gewählte Unterordnung unter das Gesetz (denn in einem demokratischen Staat ist jeder Einzelne Teil der Gesetzgebung). Demut heisst das Bewusstsein, dass wir nicht über allem stehen. Nichts nutzloser, als einem amerikanischen Trumpel einen solchen Gedanken plausibel zu machen. Aber bei uns müsste es möglich sein, wenn wir uns darauf besinnen, wofür unser Staat steht. Siehe oben.
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