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Eigenverantwortung und Eigennutz

Die ganze Schweiz reibt sich verwundert die Augen: Eben standen wir in Sachen Corona-Pandemie so gut da, wie wir es in fast allen Bereichen im internationalen Vergleich gewohnt sind – und flugs sind wir zum Sicherheitsrisiko Europas geworden, sitzen in einem Boot mit den Belgiern und den Tschechen. Meilenweit sind wir abgehängt von Deutschland, das uns als Nation auf die Risikoliste gesetzt hat, zusammen mit Polen und Italien. Landauf, landab werden deshalb derzeit die Experten gefragt: Was ist geschehen in den letzten drei Wochen? Wie konnte uns das passieren, den selbsternannten Muster-kindern der Welt?

Die Experten geben sich sibyllinisch, wobei ungewiss ist, ob sie tatsächlich rätseln oder es einfach nicht wagen, die Wahrheit rundherum auszusprechen. Dabei wäre sie ganz simpel. Sie liegt darin, dass das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit, auf das die Behörden bei der Dekretierung – und noch mehr bei der Rücknahme – aller Massnahmen stets gesetzt haben, grandios gescheitert ist. Das bittere Fazit lautet, dass man uns nicht so trauen kann, wie das gemäss unserer Selbstwahrnehmung möglich sein sollte.

Der Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger vertrauen zu können, müsste eigentlich das Grundprinzip jeder liberalen Staatsordnung sein. Ihre Mündigkeit müsste sie befähigen, aus Einsicht in die Notwendigkeiten eines geordneten Zusammenlebens in allen kleinen Egoismen zurückzustecken und sich so zu verhalten, dass der Gesetzgeber nur die grossen Linien regeln müsste und alle Details der Vernunft des Einzelnen anvertrauen dürfte. „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte“, lautet der entsprechende kategorische Imperativ in der Formulierung von Immanuel Kant. Ein Traum, wenn das Leben so gelebt werden könnte: ein mündiger, eigenverantwortlicher Mensch zu sein, der mit Respekt vor den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und in Toleranz gegenüber seinen Mitmenschen eingebettet wäre in eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Verbote wären unnötig, weil jeder und jede die angesagte Gebotskultur verinnerlicht hätte.

Tatsächlich entspricht die schweizerische Rechtslandschaft in mancher Hinsicht diesem Prinzip, und zwar als Folge der direktdemokratischen Elemente unserer Verfassung. Fast immer, wenn in der Schweiz mit dem Mittel der Volksinitiative ein Begehren formuliert wird, das erstens dem Laissez-faire der Wirtschaft zuwiderläuft und zweitens Chance auf Annahme hat, kommt es zu einem Gegenvorschlag des Bundes-rates, der in aller Regel einen hart formulierten Initiativtext abschwächt und stattdessen auf die Eigenverantwortung ausgerechnet jener Kreise setzt, die einen Nachteil aus der Annahme der Initiative ziehen würden. Aktuell sind Gegenvorschläge hängig zur Konzernverantwortungsinitiative, zur Initiative «Gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer» oder zur Initiative «Sicheres Wohnen im Alter» (die Liste liesse sich verlängern).

Es lohnt sich, diesen Mechanismus zu hinterfragen. Er bedeutet in Tat und Wahrheit nichts anderes, als dass der Gesetzgeber und die Exekutive sich um eine ihr auferlegte Verantwortung drücken, indem sie Entscheidungsgewalt jenen übertragen, die gar keine Veränderung wollen, weil der Status quo ihren Interessen entgegenkommt. Insofern kann es nicht erstaunen, dass die Hoffnung in die Eigen-verantwortlichkeit aller Personen – der natürlichen wie der juristischen – ein Trugschluss ist. Statt dass gesetzliche Regelungen eingeführt würden, wird zu oft ein Initiativbegehren auf diesem Weg faktisch zum moralischen Appell an die Wirtschaft verwässert. Wer daraus letztlich einen Nutzen zieht, haben wir anhand ungezählter Beispiele erlebt.

Pflicht des Staates – von Parlament und Regierung – wäre es, den Schutz des Einzelnen und seine Rechte zu garantieren. Dazu aber wäre es erforderlich, dass jeder Bürger und jede Bürgerin sich der Eigenverantwortlichkeit aus Einsicht unterziehen würde. Der Blick ins Leben belehrt uns jedoch, dass das nie der Fall sein wird. Der Appell an die Eigenverantwortlichkeit verkommt deshalb zu oft zum Benefit von Profiteuren. Ihnen kommt es entgegen, wenn in einer Sache keine harten gesetzlichen Regelungen eingeführt werden, sondern wenn sie – mehr oder weniger – auf sich allein gestellt sind im Abwägen, ob sie etwas tun oder lassen wollen, woraus sie Nutzen ziehen. In einer Kultur, die moralische Werte mehr und mehr verhöhnt, die den Eigennutz zum Chic erhebt („Geiz ist geil“, „America first“) und Solidarität als Naivität von Gutmenschen abtut, bringen moralische Appelle gar nichts.

Manchmal sind Verbote wie auch verbindliche, in ihrer Beachtung überprüfbare Gebote unverzichtbar. Wir leben (nicht nur mit Blick auf die Corona-Krise) in einer Zeit, welche die klar definierte staatliche Leitlinie unverzichtbar macht. Gutes Zureden war gestern. Wer sich heute als Politiker um Entschei-dungen drückt, weil er es allen Seiten recht machen will, weil er keine Branchen vergraulen möchte und sich statt auf Problemlösung auf Popularitätswerte konzentriert, wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Wer aber den Mut zur Entscheidung findet, entspricht der liberalen Ordnung, für die er steht, in einem höheren Mass als der Zauderer, der sich hinter der delegierten Eigenverantwortung versteckt. Denn zu oft ist sie nichts anderes als gut getarnter Eigennutz.

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