Während am Flughafen Kabul das Zeitfenster für alle Verzweifelten eng und enger wird, werden die Regierungschefs der westlichen Welt nicht müde, unablässig den NATO-Rückzug aus Afghanistan als alternativlos darzustellen. Unverzichtbare Begleitmelodie dabei ist das Geschwafel von den westlichen Werten, die den Krieg vor 20 Jahren nötig gemacht hätten. Aber schon damals war nicht viel von einer Wertekultur zu spüren. Bereits unmittelbar nach 9/11 (statt erst 2003) hätte George W. Bush viel lieber gegen den Irak losgeschlagen, gegen den man den Krieg bereits 1997 pfannenfertig vorbereitet hatte, aber es liess sich keine Verbindung zwischen Osama bin Laden und Saddam Hussein nachweisen. Deshalb musste Afghanistan herhalten, das bin Laden offenbar Unterschlupf gewährte. Seither nimmt das Desaster seinen Lauf, und weder Barack Obama noch Donald Trump gingen das Risiko ein, es abzubrechen. Man hat es Joe Biden überlassen, die Kohlen aus dem Feuer holen. An ihm bleibt jetzt die politische Verantwortung kleben für eine nationale Pleite vom Kaliber des Vietnam-Fiaskos. Schlimmer noch: Überliess man 1975 Südvietnam dem kommunistischen Norden, der nichts Ärgeres tat als die Landwirtschaft zu kollektivieren und die Betriebe zu verstaatlichen, so überlässt man jetzt Afghanistan einer voraufgeklärten Horde von Gotteskriegern, die in der Zivilgesellschaft und insbesondere unter den Frauen und Mädchen nach den Gesetzen der Scharia wüten wird.
Was das innenpolitisch für einen demokratischen Präsidenten bedeuten kann, zeigt das Beispiel von Jimmy Carter nach der Besetzung der US-Botschaft in Teheran vor 40 Jahren, als islamistische Revolutionäre 52 amerikanische Diplomaten anderthalb Jahre lang in Geiselhaft hielten. Ab nächster Woche werden sich tausende Angehörige westlicher Staaten als Geiseln in der Hand der Taliban befinden… Die schmähliche Nicht-Wiederwahl bei nächster Gelegenheit war im Fall Carters der Preis für etwas, wofür er keine Verantwortung trug. Die Republikaner (allen voran Donald Trump) werden Bidens Blösse schamlos auskosten. Umso mehr heult Biden jetzt mit den Wölfen, um das amerikanische Engagement ins beste Licht zur rücken: Demokratie! Freiheit! Menschenrechte! Auch wenn es vergebens war, so haben wir doch gekämpft für die westlichen; wir haben es wenigstens versucht. Aber leider war den Menschen dort nicht zu helfen.
Der Wert der Werte lässt sich beziffern: 1 Billion Dollar haben die USA ausgegeben. Und in der Tat, wir müssten Biden recht geben: 1000 Milliarden, um eine Gesellschaft von knapp 40 Millionen Menschen zu lehren, wie freiheitliche Ordnung geht, sollten eigentlich reichen. Das 50fache des afghanischen Brutto-Inlandproduktes. 25'000 Dollar pro Kopf in einem Land, wo ein Dollar das Vierfache an Kaufkraft hergibt als in den USA… Wieviel Bildung müsste das ausmachen, wieviel Gesundheitsvorsorge, wieviel staatliche Infrastruktur, um die Menschen von den Segnungen des Liberalismus zu überzeugen! Aber es reichte dennoch nicht. Hat Biden recht: Hat es nicht geklappt, weil diesen Menschen schlicht und ergreifend nicht zu helfen war?
Mitnichten. Die NZZ vom Montag dieser Woche lieferte Zahlen, höchst verdienstvollerweise. Von der von Biden genannten Billion (1000 Milliarden) verschlangen der Krieg 837 Milliarden und die Aufbaukosten 133 Milliarden (davon 89 Milliarden für den Aufbau einer Sicherheits-Infrastruktur), macht in der Summe 970 Milliarden. Leider verschweigt die NZZ, wie diese Zahlen konkret zu lesen sind. Nämlich so: Der amerikanische Kongress bewilligte über die 20 Jahre insgesamt 1000 Milliarden an Steuergeldern, die, via Bedarfsmeldungen aus Kabul, zu 970 Milliarden zurück in die Auftragsbücher der amerikanischen Waffenlobby, privater Sicherheitsfirmen wie Blackwater und Infrastruktur-Aufbauer wie Halliburton flossen. Oder, noch deutlicher: Diese Gelder haben die USA nie verlassen, nie ein afghanisches Konto gesehen (geschweige denn eines, das für die Bedürfnisse der afghanischen Bevölkerung eingerichtet gewesen wäre), sondern landeten direkt auf den Konten der Konzerne. Um korrekt zu sein: 1,3 Milliarden Dollar gab es immerhin für Bildungsprojekte, beispielsweise für die Herstellung von Schulbüchern. Bei amerikanischen Verlagen, wo sonst.
Die Bedarfsmeldungen aus Kabul kamen von der US-Armeeführung, der die Rüstungsindustrie naturgemäss jeden Wunsch von den Augen abliest. Die von den USA aufgebaute afghanische Regierung um Hamid Karzai (2014 von den Taliban ermordet) war hochgradig korrupt, wurde aber von den USA und ihren NATO-Partnern durch alle Böden gestützt, weil sich nur so die primären politischen Fehleinschätzungen kaschieren liessen und nur so die Mär vom Demokratieaufbau aufrechterhalten werden konnte. Kann da erstaunen, dass das Training der innerafghanischen Sicherheitskräfte durch amerikanische Anbieter an der Motivation der Auszubildenden ins Stolpern geriet? Dass es etwas harzig voranging mit der Demokratie? Dass der Siegeszug der Taliban der letzten Wochen ein Spaziergang war?
Ein Blick in die Geistesgeschichte belehrt uns, dass Kulturen immer dann untergegangen sind, wenn sie nicht mehr zu den Werten standen, um deretwillen sie einst gross geworden waren. Der Kampf um die Demokratie, der das Abendland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geprägt hat, war unaufhaltsam, solange es um die ursprünglichen Ziele ging: Um das mündige Individuum, die Selbstbestimmung, den Liberalismus. Menschen sind für Menschenrechte… Insofern wäre deren Durchsetzung noch heute nichts als eine Frage der Zeit, wäre der westliche Wertekatalog nicht verkommen zu einem Deckmantel für das, worum es wirklich geht: um den unbeschränkten Marktzugriff der Konzerne, um deren von den Regierungen nicht mehr beherrschbare, aus dem Ruder gelaufene Macht. Wenn der Westen seine globale Hegemonialstellung verlieren wird – worauf derzeit alle Zeichen hindeuten –, dann nicht wegen China, sondern wegen seiner selbst.
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