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AutorenbildReinhard Straumann

Weltmacht auf der Suche nach der verlorenen Identität

Exakt ein Jahr ist es her, als ein provozierter und enthemmter Mob in Washington das Capitol stürmte. Ein sowohl persönlich wie auch politisch unzurechnungsfähiger Präsident hatte sich mit seiner Wahlniederlage nicht abfinden können und flirtete versuchsweise mit dem Unvorstellbaren: mit einem Dolchstoss ins Herz der Supermacht. Der Egomane Donald Trump, unfähig zu verstehen, was er gerade im Begriff war zu tun, wollte die gewählte Regierung der USA wegputschen, der selbsterklärten Beschützerin von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.

Wie wenig es damit auf sich hat, wissen wir nicht erst seit dem 6. Januar 2021. Trumps Putschversuch führte der Weltöffentlichkeit jedoch vor Augen, in welch desolatem Zustand die Demokratie Amerikas sich befindet. Seither bemüht sich Joe Biden nach Kräften, verblichene Grösse aufzufrischen. Aber es ist zu spät. Biden, dessen politische Wurzeln in den 1960er-Jahren liegen, versucht, eine Renaissance der damaligen politischen Verhältnisse zu beschwören, als er noch jung und die Welt – vermeintlich – in Ordnung war. Er versucht, das Rad der Zeit hinter den Sündenfall zurückzudrehen. Das Scheitern ist vorprogrammiert. Denn mit den Zeiten haben sich die Strukturen gewandelt. Nicht mehr die Politik regiert die USA, sondern die Wirtschaft in Gestalt einer elitären Klasse, die die Megakonzerne der Öl-, Waffen- und Informatikbranche dirigiert.

Das ist nicht neu. Die (amerikanische) Historikerin Barbara Tuchman («Die Torheit der Regierenden», 1984) hat schon in den 1980er-Jahren den Vietnamkrieg als Sündenfall ausgemacht und überzeugend gezeigt, wie alles begann: Wie die Regierung des texanischen Haudegens Johnson der populistischen Domino-Theorie aufsass, wie Johnson die Lüge vom Tonking-Zwischenfall erfand und sie als Casus belli nutzte. Johnson gab eine unsinnige Siegfriedensdoktrin aus und befeuerte es, Stück für Stück die Ideale aufzugeben, die Amerika gross gemacht hatten. Seither schaut die amerikanische Politik zu, wie der Lobbyismus den Kongress erobert und wie das Parlament Gesetz nach Gesetz erlässt, um den Staat zu schwächen und das Grosskapital zu stärken. Permanent um ihre Wiederwahl kämpfend, lassen sich die Abgeordneten von den Lobbyisten die Wahlkämpfe finanzieren und folgen den von den Konzernen vorgegebenen Generallinien. Eisenhower, Republikaner und Viersternegeneral, hatte 1960 noch vor der Macht der Rüstungsindustrie gewarnt, die die Demokratie unterwandern werde. Nach ihm wurde Kennedy ermordet (wir werden wohl nie erfahren, welche Rolle die hier beschriebenen Zusammenhänge spielten…), und seither machten es alle Nachfolger, von Nixon bis Biden, keinen Deut besser: Sie liessen sich von den Grosskonzernen das Heft aus der Hand nehmen und die Agenda diktieren.

Heute sind wir soweit, dass manche der Kapitaleigner aus dem Öl- und Waffenbusiness und dem Silicon Valley erklärtermassen einen Gegensatz zwischen Demokratie und Freiheit sehen. Kein Wunder, denn unter Freiheit verstehen sie die Freiheit des Kapitals und nicht die Freiheit des Individuums (oder allenfalls die Freiheit des superreichen Individuums, sein Geld ohne staatliche Auflagen vermehren zu können).

Die vielbeschworene Freiheit des Individuums dient nur noch der Rhetorik. Das Narrativ von der möglichen Tellerwäscherkarriere, an deren Ende man Millionär wird, ist zum Bestandteil des Glaubensbekenntnisses des kleinen Mannes verkommen, eine Art Opium fürs Volk. Die Rhetorik von Demokratie und Menschenrechten dient dazu, Kriege zu rechtfertigen, die einzig der Rüstungsindustrie dienen. «Freiheit» ist zum Euphemismus für die Selbstbedienungsmentalität des Kapitals geworden. Die Käuflichkeit der Politik ist das Elend Amerikas und der Ursprung seines Niedergangs.

Das Auseinanderklaffen von Schein und Sein geht an den Menschen nicht vorbei. Auch die Anhänger der Republikaner, die Trump-Freunde, die sich täglich mehrstündig der Propaganda von «Fox-News» aussetzen, verspüren ein Ungemach, aber sie können es, aufgrund der Hirnwäsche ihrer Medienwelt, nicht lokalisieren. Sie bejubeln Trump, weil er gegen das Establishment schimpft, und merken nicht, dass er selbst dazu gehört. Sie erfahren tagtäglich das Gegenteil dessen, was die offizielle (neoliberale) Wirtschaftstheorie verkündet, nämlich dass vom Reichtum der Superreichen letztendlich auch sie selbst profitieren würden. Sie entäussern ihren Zorn dadurch, dass sie in der Pandemie die Impfung verweigern und das Maskentragen unterlassen. Und sie sind letztlich diejenigen, die sich mobilisieren lassen, das Kapitol zu stürmen. Untersuchungen und Prozesse gegen sie laufen, während sich Trump schadlos hält und den Betrug vorantreibt. In den republikanisch regierten Einzelstaaten wird mit Hockdruck daran gearbeitet, die Wahlbezirke so umzumodeln, dass faire, demokratisch getroffene Wahlentscheidungen unmöglich werden. Daran, dass Farbige aufgrund irgendwelcher Kriterien (beispielsweise ihres Strafregisters) von zukünftigen Wahlen ausgeschlossen werden. Denn die Zeit drängt: Im November stehen die nächsten Kongresswahlen an.

In allen Facetten seiner Spaltungen ist Amerika sich selbst abhanden gekommen. Das Land steckt in der tiefsten Identitätskrise. Wenn eine Hälfte etwas will, will die andere das Gegenteil. Trump baut seine Kandidatur für 2024 auf; er wird sich als Retter, als Messias präsentieren. Seine Partei, die Republikaner, haben es verpasst, sich zu distanzieren, weil sie selbst Opfer dieser Identitätskrise sind. Jetzt sitzen sie mit im Boot und werden ihn unterstützen.

Man muss kein Prophet sein, um das Unheil kommen zu sehen. Barbara Tuchman erzählt im oben erwähnten Buch («Die Torheit der Regierenden») das Beispiel von Kassandra, dem Orakel von Troja, das seine Mitbewohner vor dem eigenartigen hölzernen Pferd warnt, das plötzlich vor den Toren steht. Die Trojaner wollten nicht hören; sie holten das Pferd in die Stadt. Tags darauf lag sie in Schutt und Asche.

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